Meine Presseschau:Russische Ängste

Lesezeit: 2 min

Präsident Putin kommt auf eine Zustimmung von 90 Prozent. Einen inneren Feind gibt es nicht, dafür wird nach einem äußeren gesucht.

Ausgewählt von  Julian Hans

Umfragen bescheinigen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Zustimmungswerte von nahezu 90 Prozent. Trotzdem scheint in der russischen Führung die Angst vor einem Umsturz nicht nachzulassen. Warnungen vor der Wühlarbeit einer "fünften Kolonne" in Betrieben, Hochschulen und vor allem in Nichtregierungsorganisationen im Auftrag fremder Mächte (Sprich: der USA), sind ein Dauerthema in Russlands Medien.

In den vergangenen Wochen hat der Staat die Jagd auf angebliche Agenten weiter verschärft. Putin warnte vor Stiftungen, die "Schulen durchstöbern" und talentierte Kinder mit Stipendien "anfixen", um sie dann ins Ausland zu locken. Am Mittwoch verabschiedete der Föderationsrat eine "Patriotische Stopp-Liste" mit zwölf "unerwünschten Organisationen", die angeblich die staatliche Ordnung bedrohten. Zusammenarbeit mit ihnen kann in Zukunft bestraft werden. Darunter ist die Open Society Foundation des Milliardärs George Soros und ein Netzwerk ukrainischer Menschenrechtsgruppen auf der Krim.

Nach einem denunzierenden Fernsehbeitrag wurde der Amerikaner Kendrick White von seinem Posten als Vize-Rektor an der Universität Nischni Nowgorod entlassen. Er arbeitet seit 20 Jahren in Russland. Zwei NGOs kündigten ihre Auflösung an, nachdem sie vom Justizministerium das Etikett "Agenten des Auslands" verpasst bekommen hatten - das Komitee gegen Folter und die Stiftung Dinastia, die Grundlagenforschung förderte.

Da es in Russland keine echten Wahlen gebe, bleibe der Staatsmacht nur der Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner, schreibt Andrej Sinizyn in der Wirtschaftszeitung Wedomosti: "Es ist ein bekanntes Paradox: Die Säuberung des politischen Felds von jeglicher Konkurrenz besiegt nicht die Angst, sondern vergrößert sie. Der Feind ist nirgends und zugleich überall. Jeder könnte der Feind sein. Indem sie gleiche und faire Wahlen abgeschafft hat, dehnte die Staatsmacht die politische Front bis zur Unendlichkeit aus."

Die einst in Russland erwünschten Hochschullehrer aus dem Ausland müssten sich heute immer öfter rechtfertigen, dass sie keine Feinde sind, schreibt Alexander Adamskij in der Nowaja Gaseta. "Faktisch wurde in der Staatsduma und in der Regierung der Gedanke zum Ausdruck gebracht, dass die Beherrschung der eigenen Muttersprache zur nationalen Identität gehört, das Erlernen einer Fremdsprache aber diese Identität verwässert. Lehrer von Fremdsprachen müssen sich dafür rechtfertigen, dass sie ihren Schülern etwas beibringen. So verliert Bildung ihren Sinn und ordnet sich der Konjunktur des politischen Fieberwahns unter." Adamskij erinnert daran, dass die Regierung noch vor fünf Jahren ein Programm verabschiedet hatte, um mehr ausländische Wissenschaftler anzuziehen.

Auf dem Portal slon.ru setzt sich Oleg Kaschin mit der Sprache in der russischen Politik auseinander. Der Duma-Vorsitzende Sergej Naryschkin hatte westliche Politiker als "bemitleidenswerte Clowns" bezeichnet, nachdem ihm Finnland die Einreise verwehrt hatte. "Wenn die führenden Politiker mit übermäßig scharfen Worten auftreten, ist das ein klares Zeichen einer Krise. Die Krise, die Russland derzeit durchlebt, macht zuallererst den Eindruck einer emotionalen Krise, einer psychologischen, einer Nervenkrise". Wenn Naryschkin von "bemitleidenswerten Clowns" spreche, "dann ist das Hysterie", schreibt Kaschin. Dem Politiker sei klar geworden, dass er "nun Teil der Elite eines isolierten Landes" sei, in dem "die Mängel des Alltags durch Flüche auf die Gringos kompensiert werden".

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: