Meine Presseschau:Paralympics, was bleibt?

Brasiliens Zeitungen bewerten die Situation der Behinderten.

Von Boris Herrmann

Gemessen an den düsteren Prognosen verlaufen die Paralympics von Rio de Janeiro bislang erstaunlich reibungslos. Die Arenen sind meist gut gefüllt, die Gastgeber stehen im Medaillenspiegel so gut da wie noch nie und den ausländischen Athleten gefällt es offenbar sogar in den baufälligen Unterkünften. Probleme werden von Rios größter Zeitung O Globo fröhlich ignoriert. Die grundlegende Frage ist ja, was die Bevölkerung von diesem kostspieligen Sportfest hat. O Globo glaubt an eine neue Ära der Barrierefreiheit: "Die Paralympics hinterlassen eine bessere Stadt für Behinderte." Die meisten Behinderten, zumal jene, die in einer der rund 1000 Favelas leben, sind da skeptischer.

Wie schon bei den olympischen Spielen im August spielt das Globo-Imperium, zu dem auch das größte Fernsehnetzwerk Lateinamerikas gehört, eine seltsame Doppelrolle: halb Berichterstatter, halb Werbepartner. Globo hat seine Studios nicht von ungefähr mitten im Olympiapark aufbauen dürfen, im Gegensatz zu allen anderen akkreditierten Medien. Das könnte den unerschütterlichen Jubelmodus erklären.

Deutlich misstrauischer gegenüber dem Vermächtnis der Paralympics sind die Blätter aus Brasiliens größter Stadt São Paulo. Das mag auch daran liegen, dass sich die Paulistanos und die Cariocas aus Rio ungefähr so gern haben wie die Münchner und die Berliner. Die Tageszeitung O Estado de S. Paulo begleitete Rollstuhlfahrer und Blinde durch das Zentrum der paralympischen Stadt. Dabei trafen sie auf reichlich Busse ohne Rampen, Ampeln ohne Tonsignale und unüberwindbare Bordsteinkanten. "Im Gegensatz zu den Athleten, denen eine perfekte Infrastruktur zur Verfügung gestellt wurde, treffen behinderte Menschen im Alltag hier immer noch auf unüberwindbare Hindernisse. Für sie bleibt es ein ferner Traum, sich autonom durch die Stadt zu bewegen", resümiert der Bericht.

Das Wochenmagazin Istoé, ebenfalls aus São Paulo, stellt fest, dass sich die neue Barrierefreiheit in Rio auf die modernisierte U-Bahn beschränke. Die transportiere aber nur vier Prozent der Einwohner. Etwa zehnmal so viele Menschen seien in dieser "so schönen wie ungerechten Stadt" in Omnibussen unterwegs. "Rollstuhlfahrer gehören bestimmt nicht zu den Passagieren, die in diesem kollabierenden Transportsystem bevorzugt behandelt werden", urteilt Istoé.

Wenn es bei O Globo überhaupt kritische Töne an den Paralympics gibt, dann stammen sie meist von Gastkommentatoren wie Teresa Costa d'Amaral, der Leiterin des renommierten Brasilianisches Instituts für Rechte von Behinderten. Deren Generalabrechnung hat es in sich. Costa verweist darauf, dass es in Brasilien zwar exzellente Gesetze zur Inklusion gebe, es sei bloß weit und weit niemand da, der sie umsetze. "Menschen mit Behinderung wird der Zugang zu ihren grundlegenden Bürgerrechten verweigert", schreibt Costa. Sie fragt: "Was bringt ein Recht auf ein barrierefreies Leben, wenn einfache Beatmungsgeräte oder essenzielle Medikamente nicht von der öffentlichen Gesundheitsversorgung übernommen werden? Oder wenn frisch Amputierte ohne einen Rollstuhl aus dem Krankenhaus entlassen werden?" Aus ihrer Sicht ist es naiv, zu glauben, dass zehn Tage Paralympics etwas daran ändern. Wenn die Symbolkraft dieser Spiele nicht durch konkrete rechtliche Schritte und durch den Kampf gegen Vorurteile begleitet werde, dann hinterlasse dieses Ereignis überhaupt nichts, glaubt Costa. Schlimmer: "Eine große Zahl der Athleten der brasilianischen Delegation wären gar nicht behindert, wenn sie Zugang zu einer anständigen Gesundheitsversorgung hätten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: