Meine Presseschau:Italien staunt

Meine Presseschau: Illustration: Bernd Schifferdecker

Illustration: Bernd Schifferdecker

Die Bilder vom Empfang der syrischen Flüchtlinge in München und anderswo haben das Deutschlandbild radikal verändert. Einige italienische Medien behandeln Kanzlerin Angela Merkel schon wie eine Heilige.

Von Oliver Meiler

Sie kam spät, Deutschlands politische Wende, sehr, sehr spät, finden die Italiener. Aber sie kam ja dann doch noch. Und zwar so massiv, dass die "überraschende Volte" der deutschen Kanzlerin, wie man die Reaktion in Italien nennt, vielleicht einmal eine historische Dimension erhalten wird. Lange kam es den Italienern so vor, als kümmerten die Nordeuropäer die schrecklichen Dramen im Mittelmeer nicht. Als sei das Problem mit den Flüchtlingen im Grunde ein italienisches, griechisches, maltesisches. Eines an weit entfernten Außengrenzen. Nach den Willkommenschören am Münchner Hauptbahnhof, den Spruchbändern in deutschen Fußballstadien und den klaren Bekenntnissen Merkels ist nun alles anders.

Im Corriere della Sera, der bürgerlichen Zeitung aus Mailand, deutet der liberale Intellektuelle Ernesto Galli della Loggia Merkels Besinnung so: "Das Bild jenes syrischen Kindes, leblos am türkischen Strand, muss die Kanzlerin an ein anderes Kind erinnert haben, ein jüdisches, aufgenommen in den Flammen des Warschauer Ghettos, 1942, mit ausgestreckten Händen, als habe es vor den Nazis kapituliert. Merkel hat verstanden, dass das Foto des syrischen Kindes und die Bilder von Scharen verzweifelter Menschen auf der Flucht, gefangen hinter Stacheldraht und in versiegelten Zügen in Ungarn, die den Traum vom gelobten Deutschland im Herzen tragen, ihr Land bedrohlich in eine Art historisches Remake voll unerträglicher symbolischer Gewalt drängten. Politiker von Rang verstehen solche Dinge sofort. Instinktiv. Und handeln."

Eine ähnliche Erklärung wählte der Schriftsteller Ferdinando Camon in Turins La Stampa: "Merkels Beschluss, Flüchtlinge aufzunehmen, schließt im kollektiven Gedächtnis vieler Europäer die Epoche des grausamen und feindlichen Deutschland, wie es im Zweiten Weltkrieg entstanden war. Wer so alt ist wie ich, sah Deutschland immer so." Camon ist 79 Jahre alt. "Ich dachte, das Bild würde sich nie wandeln." Und weiter: "Es ist kein Zufall, dass eine Frau diesen Neubeginn der deutschen Geschichte anführt. In ihrem Mund verliert die deutsche Sprache jede militärische Tonalität. Merkels Deutsch hat einen sanften, schwächlichen, netten Sound. Es ist eine menschliche Sprache."

Etwas nüchterner kommentiert die linksliberale römische Zeitung La Repubblica, die Deutschland in den Monaten Merkelscher Zögerlichkeit oft kritisierte. Ihr Gründer, der berühmte Journalist Eugenio Scalfari, Jahrgang 1924, schreibt in einem Leitartikel: "Merkel hat sich hochgeschwungen zur Promotorin wiederentdeckter europäischer Werte und wusste dabei einen Großteil der öffentlichen Meinung in ihrem Land und auf dem ganzen Kontinent hinter sich: die Zivilgesellschaft, die Institutionen, die Wirtschaft, die Sportvereine, die Studenten und die Intellektuellen."

Die Sicht auf Deutschland hat sich in kürzester Zeit so stark gewandelt, dass virulente Kritiker Merkels über unüberbrückbar geglaubte ideologische Gräben springen. Der Corriere beschreibt das Phänomen so: "In Italien galt Angela Merkel vielen bis vor Kurzem noch als Verkörperung aller Grausamkeit, als personifizierte Perfidie, weil sie die Griechen aushungere. Nun ist sie für unsere Linke plötzlich eine Heilige."

Das junge Blatt Il Fatto Quotidiano, das der Protestpartei Movimento 5 Stelle nahesteht, schreibt dazu: "Bevor Santa Angela auf dem Damaskusweg vom Blitz getroffen wurde, erklärte sie Mitte Juli einem weinenden palästinensischen Mädchen: 'Wir können nicht alle aufnehmen.'" Und mit Ironie: "Nun sitzt Merkel schon zwischen Gandhi und Jesus."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: