Meine Presseschau:Frühling der Hoffnung

In Kalabrien wurde ein führendes Mitglied der örtlichen Mafia verhaftet. Jetzt hoffen die Menschen auf Fortschritte im Kampf gegen das organisierte Verbrechen.

Von Oliver Meiler

Die kalabrische Kleinstadt Locri, am Ionischen Meer gelegen, hat keinen guten Ruf. Wenn sie es einmal in die Schlagzeilen der italienischen Zeitungen schafft, dann handeln diese meist von der lokalen Mafia, der mächtigen und mittlerweile weltweit agierenden 'Ndrangheta. Diese Woche nun gingen in Locri, das ungefähr 12 000 Einwohner zählt, 25 000 Menschen auf die Straße, um der Opfer der Mafia zu gedenken. Es waren viele junge Menschen dabei, Schulklassen aus der ganzen Region. Die Zeitung La Repubblica aus Rom beschreibt den Marsch als "Primavera di Locri", als Frühling des Aufstands und der Hoffnung. Es ist eine zerbrechliche Hoffnung.

Am Vorabend des Marsches, zu dem die Anti-Mafia-Vereinigung "Libera" des katholischen Geistlichen Don Luigi Ciotti aufgerufen hatte, prangte plötzlich an einer Mauer in Locri der Spruch: "Don Ciotti Bulle. Mehr Arbeit, weniger Bullen." Wer ihn da hingesprayt hat, weiß man nicht. Es wird ermittelt. In seiner Rede sagte Don Ciotti dann: "Wir alle sind Bullen." Es müsse jetzt ein großer Ruck durch das Land gehen, die 'Ndrangheta sei überall. Wie wörtlich das zu nehmen war, zeigte eine Verhaftung nur Stunden danach: Nicht weit von Locri entfernt, in einem Bunker, wurde Santo Vottari gefasst, der vor zehn Jahren in einen Mehrfachmord in Duisburg verwickelt war. Wie die meisten "flüchtigen" Mafiabosse hatte sich auch Vottari, 44, zu Hause versteckt und von dort weiter kommandiert.

"Das Gedenken", schreibt der bekannte Reporter Attilio Bolzoni in der Repubblica, "ist die stärkste Waffe gegen die Mafia, weil es das Schweigen bricht und die Toten auferweckt." Es dürfe aber nicht nur zeremoniell sein. Seit 1893 sind 950 Italiener von der Mafia getötet worden, weil sie sich im falschen Moment am falschen Ort aufhielten oder weil sie sich gegen die Unterdrückung aus der Unterwelt wehrten. In Locri wurden ihre Namen verlesen, es dauerte zwanzig Minuten. Das investigative Nachrichtenportal Linkiesta erinnert daran, dass von den fast Tausend Opfern 108 Kinder waren. Es sei ein falscher, dennoch hartnäckig kultivierter Mythos, dass die Mafia Kinder verschone. "Es gab solche, die entführt wurden und dann den Schweinen zum Fraß hingeworfen, in Säure aufgelöst oder verbrannt wurden." Die Mafia, schreibt Linkiesta, folge keinem Ehrenkodex.

Staatspräsident Sergio Mattarella, der einige Tage vor dem großen Marsch ebenfalls in Locri aufgetreten war, sagte es so: "Die Mafia hat weder Ehre noch Mut." Sein Wort wiegt schwer. Der Bruder des Präsidenten, Piersanti Mattarella, einst ein junger und populärer Gouverneur Siziliens, wurde 1980 von der Cosa Nostra ermordet, weil er unbequem war. Mit acht Schüssen. Die Killer hatten vor dem Haus der Familie in Palermo gewartet. Piersanti starb auf dem Weg zum Krankenhaus in den Armen seines jüngeren Bruders. Sergio Mattarella warnte davor, dass sich das organisierte Verbrechen auch auf unscheinbare Art festsetze, im Zusammenspiel mit einer oftmals komplizenhaften und korrupten Lokalpolitik. Er nannte diese Schnittstelle eine "Grauzone".

Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera schreibt, in dieser Grauzone sitze die größte Gefahr, sie sei das Herz aller Überlegungen zur gegenwärtigen Mafia: "Dort begegnen sich und paktieren Mafia und Politik", schreibt das Blatt, "und das erstickt die öffentliche Verwaltung und folglich auch das Leben der Bürger." Ohne Morde und ohne Attentate. Drohungen reichten dafür schon aus, und gesprochen werde darüber nicht. Das Schweigen, die Omertà, war der Mafia immer schon das liebste.

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