Meine Presseschau:Erdoğan ist überall

Szymanski

Am kommenden Sonntag stimmt die Türkei über die umstrittene neue Verfassung ab. Die türkische Presse rechnet mit einem knappen Ausgang.

Ausgewählt von Mike Szymanski, Istanbul

Der Hürriyet-Kolumnist Mehmet Y. Yılmaz hat seine Leser neulich an seiner Autofahrt in Istanbul teilhaben lassen. 45 Minuten durch die Großstadt. "Das Gesicht, das ich unterwegs am häufigsten sah, war das von Recep Tayyip Erdoğan", schreibt der Journalist. Er kam an Plakaten mit dem Konterfei des Staatspräsidenten vorbei, die gesamte Häuserfronten bedeckten. Erdoğan blickte zudem von Werbetafeln. "Das reichte auch noch nicht", notiert Yılmaz. Es gab zusätzlich noch Plakate an Laternenmasten mit seiner Botschaft: Für ein "Ja" im Referendum.

Überall Erdoğan. Am 16. April stimmen die Bürger über die künftigen Machtbefugnisse des Staatspräsident ab. Der Politiker strebt den Übergang zum Präsidialsystem an. "Nein"-Plakate habe Yılmaz "höchstens zehn" gezählt. Für ihn steht fest: Die Regierung wolle nur ein Gefühl verstärken, das ohnehin viele Türken beschlichen habe. Einen anderen Ausweg als Erdoğans Präsidialsystem scheint es nicht zu geben. "Die Umfragen zeigen, dass ein Teil der Nein-Sager nicht zur Wahl gehen will, weil er meint, dass das Ja-Lager sowieso gewinnt." Erdoğans Strategie hätte nur dann Erfolg, wenn sich die Leute tatsächlich einreden ließen, es habe keinen Sinn, abstimmen zu gehen. Derart knapp sei der Ausgang des Rennens in Wahrheit. Das Referendum: ein ganz großes Psychospiel?

Das Satire-Magazin Leman macht sich auf dem Titel darüber lustig, wie das "Nein"-Lager mit Kreativität die Gegner schier zum Durchdrehen bringt. Gegner der Reform hatten sich dabei fotografiert, wie sie unter einigen Verrenkungen das Wort hayir (nein) mit ihren Körpern nachstellen. Die Karikatur zeigt wie ein bewaffneter Mob mit Knüppel und Messer auf einen schlaksigen Mann zustürmt, der kerzengrade dasteht. "Angriff! Da ist ein I."

Eine Woche vor der Abstimmung wird in der türkischen Presse viel über das Seelenleben der Türken geredet. Das nationalistische Blatt Aydınlık warnt davor, den Umfragen überhaupt Glauben zu schenken. "Die Leute haben Angst, ihre wahre Entscheidung preiszugegeben", schreibt Sabahattin Önkibar. Er aber glaubt sie zu kennen. Am Wahltag würde sich, genau so überraschend wie für viele der Sieg von Donald Trump in den USA gekommen war, das "Nein"-Lager durchsetzen. "Denn diejenigen, die das Land regieren, haben jedes Maß verloren."

Für Nuri Elibol, Journalist beim regierungsnahen Blatt Türkiye, sind bei all dieser Kritik vor allem jene elitären und überheblichen Kräfte am Werk, die nie damit fertig werden konnten, dass mit dem konservativen, frommen Erdoğan ein anderer Geist im Land herrsche. Sie betrachteten die Nation immer noch als Land voller "Idioten", die nichts anderes zu tun hätten, als sich "den Bauch zu kratzen". Man werde schon sehen, wer Recht behält. Spätestens am Tag nach dem Referendum.

Mit dieser Zeit befasst sich schon mal Oray Eğin in der Zeitung Habertürk. Wenn Erdoğan das Referendum für sich entscheidet, werde die Opposition die "totale Niederlage" zu spüren bekommen. Dann ändere sich am starken Anführer Erdoğan nichts, aber die Oppositionsparteien stünden vor einem großen Umbruch. "Niemand soll denken, dass er ungenügenden Politikern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert wäre". Es liege an der Basis, einen Neuanfang zu erzwingen, bevor Erdoğan bei den nächsten planmäßigen Wahlen 2019 wieder herausgefordert werde. Komme es anders, und Erdoğan unterliege, dürfe sich die Opposition nicht allzu lange dem Siegestaumel hingeben. Erdoğans Partei AKP werde sich schon am nächsten Morgen aufrappeln. So schnell gebe sich Erdoğan nicht geschlagen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: