Meine Presseschau:Eine Nation leidet

Erstmals seit 1958 wird im nächsten Jahr eine Fußball-Weltmeisterschaft ohne Italien stattfinden. Für die Zeitungen des Landes ist das Anlass für eine große Selbsterforschung.

Von Oliver Meiler, Rom

Meine Presseschau: Oliver Meiler lebt in Rom, seit Montag war er einmal draußen – fürs Einkaufen von Lebensmitteln.

Oliver Meiler lebt in Rom, seit Montag war er einmal draußen – fürs Einkaufen von Lebensmitteln.

In Italien schlägt eine Enttäuschung immer schnell um in kollektive Ernüchterung über das Große und Ganze. Gerade wenn Niederlagen im Fußball zu beklagen sind, dem geliebten Calcio. Die Azzurri werden nach dem Unentschieden gegen Schweden nicht zur Weltmeisterschaft in Russland reisen, es ist das erste Mal seit 1958, dass eine WM ohne Italien stattfindet. Und so beugt sich die nationale Presse ganz tief und übertrieben selbstkritisch über die Verfassung des Landes - politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Epochal sei sie gewesen, die erfahrene Schmach gegen Schweden im Stadion San Siro zu Mailand. Eine Zäsur sozusagen.

"Non è morto nessuno", schreibt La Stampa aus Turin in einem Leitartikel, gestorben sei niemand. In dieser Feststellung aber schwingt gleichzeitig der Zusatz mit: Doch viel hätte nicht gefehlt. Ein kollektives Psychodrama sei da im Gang. Die Zeitung zweifelt sogar an der Männlichkeit der Italiener: "Nichts wurde uns erspart, nicht einmal das Geheule unserer Helden, das kurioserweise von allen geschätzt wurde, obschon man ja sagen muss, dass ihre Tränendrüsen deutlich besser funktionierten als ihre Füße." Das sei durchaus ein Zeichen der Zeit. Mattia Feltri schreibt in seiner Rubrik "Buongiorno", ebenfalls in der Stampa: "Der Fußball ist eine Komödie, ein Feuilleton, das immer neue Episoden vorsieht, in dem jeder Absturz auch eine Chance bietet für Katharsis und Wiedergeburt." Es sind nun mal die großen Kategorien, die bemüht werden.

Etwas prosaischer, aber nicht mindergrundsätzlich drückt sich Aldo Cazzullo aus, ein bekannter Autor des Corriere della Sera, Italiens größter Zeitung: "Die erbärmliche Nacht von Mailand zeigt erneut, dass dieses Land mindestens drei große Probleme hat: Die Bereitschaft zur Aufopferung nimmt ab, der Generationenwechsel kommt nur zäh voran, und es fehlt uns an echten Leadern." Gigi Riva, eine alte Glorie des italienischen Fußballs, schreibt in der Repubblica von der "Gerontokratie" im Land. "Der Slogan, Italien sei ein Land für Alte, ist abgenützt, aber leider ist er wahr." Der Verbandspräsident im Fußball: 74 Jahre alt. Der mittlerweile entlassene Trainer: 69. Die drei Männer in der Abwehrkette der Azzurri gegen Schweden: zusammen 99 Jahre. Torwart Gigi Buffon: bald 40, im Sport fast ein Methusalem. Aber halt: Auf Buffon kommt nichts, in keinem Blatt. Er könnte sogar Trainer der Nationalmannschaft werden.

Die Zeitungen sind nun voll mit Ideen, wie sich die Misere im Calcio überwinden ließe. Der Nachwuchs, heißt es, müsse besser ausgebildet und gefördert werden, so wie man das in Deutschland mache. Die Jungen müssten endlich eine Chance bekommen. Und natürlich wäre es wichtig, wenn das der ganzen Jugend gegönnt wäre, den vielen jungen, arbeitslosen Italienern, die nicht Fußball spielen.

Il Foglio, das kleine Blatt der rechtsliberalen Elite, beschäftigt sich mit dem prekären Zusammenhalt des Landes: "Italien ist ein geografischer Begriff. Bewohnt wird es von einem kleinen Volk mit einer dürftigen Elite, das alle zwei, vier Jahre einen Monat lang trikolore Fahnen in knalligen Farben schwingt, Zaubermächte beschwört, ziemlich viel Radau macht und sich dabei einredet, eine Nation zu sein und sogar - Gott möge es ihm nachsehen! - eine Bestimmung zu haben." Das sei Blödsinn. Wobei man hier anfügen muss: Il Foglio schreibt nicht buchstäblich "Blödsinn", sondern palle, ein Wort, das genauso "Bälle" meinen kann wie etwas aus der männlichen Anatomie. Kraftausdrücke sind ja oftmals nur Manifestationen der Enttäuschung, der Ernüchterung. Sie halten wohl noch eine Weile an.

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