Meine Presseschau:Demokratisches Dilemma

Charlotte_Theile

Schweizerische Debatten um die direkte Demokratie, die für das Land und seine Identität so wichtig ist.

Ausgewählt von Charlotte Theile

Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative im Frühjahr 2014 hat die Schweiz in ein Dilemma gestürzt. Obgleich sich eine knappe Mehrheit für die Beschränkung der Zuwanderung ausgesprochen hat - die Beziehungen mit der Europäischen Union wollen die meisten Schweizer nicht aufs Spiel setzen. Und die mit der EU vereinbarte Freizügigkeit steht den beschlossenen Kontingenten für Einwanderer entgegen. Seither diskutiert das Land über die Reform der direkten Demokratie. Markus Müller, Staatsrechtler an der Universität Bern, etwa schrieb in der liberalen Neuen Zürcher Zeitung, wem die direkte Demokratie am Herzen liege, der müsse sich über "umfassende Restaurationsarbeiten" Gedanken machen. Wie diese aussehen könnten?

Der neoliberale Thinktank Avenir Suisse hat hierzu vor Kurzem ein Diskussionspapier veröffentlicht. Initiativen sollten strikter geprüft, die erforderliche Unterschriftenzahl erhöht, die Abstimmung pro Wahltag auf nur noch eine einzige Entscheidung reduziert werden. Damit will Avenir Suisse der "Initiativenflut" entgegenwirken. Dass die Volksabstimmung zum Machtinstrument geworden ist, mit dem Parteien ihre Klientel mobilisieren und Wahlkampf machen, bestreitet kaum jemand. Die Zahlen sind eindeutig: Von 2002 bis heute wurden insgesamt zehn Initiativen angenommen- fast so viele wie in den 110 Jahren von 1891 bis 2001. Doch wer hier gegensteuern möchte, muss mit Gegenwind rechnen. "Denkfabrik rüttelt am System" beschrieb die Berner Zeitung die Vorschläge von Avenir Suisse. Eine Reform, die die Rechte des Volks einschränkt? Etwas Unpopuläreres kann ein Politiker kaum unterstützen.

Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) sammelt derweil Unterschriften für die Initiative "Schweizer Recht statt fremde Richter". Sollte sie angenommen werden, wäre das auch eine - allerdings sehr spezielle - Reform der direkten Demokratie. Internationales Recht, etwa die Europäische Konvention für Menschenrechte, könnte dann von Schweizer Volksentscheiden ausgehebelt werden.

In der Weltwoche nannte Juraprofessor Hans-Ueli Vogt (SVP), der als Vater der Initiative gilt, die modernen Menschenrechte vor wenigen Tagen ein "Programm der politischen Linken". Sie seien vor allem geeignet, "Ansprüche an den Staat und damit an die Steuerzahler" zu generieren. Stattdessen sollten allein die Entscheide des Volkes gelten - etwa, was die Abschiebung von Ausländern oder die Freiheit von Medien angeht. Ein Vorschlag, der bis über die Schweizer Grenzen hinweg für Empörung sorgt. Nichtregierungsorganisationen, europäische Politiker und Völkerrechtler sind entsetzt, sprechen von der "gefährlichsten Initiative", die das Land je erlebt habe. Viele fürchten eine Kettenreaktion: Wenn die Schweiz die Menschenrechtskonvention aufkündet, könnten auch andere diesen Schritt gehen.

Schon jetzt formiert sich eine breite Allianz gegen die von der SVP als "Selbstbestimmungsinitiative" bezeichnete Abstimmung. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga warnt seit ihrem Amtsantritt im Januar vor deren Gefahren. Die in Basel erscheinende TagesWoche - gegründet 2011 als Reaktion auf den wachsenden Einfluss der SVP auf die Basler Zeitung - verweist auf die resultierende Rechtsunsicherheit: "Im Endeffekt wäre die Schweiz kein legitimer Partner mehr für internationale Verträge." Die ökonomischen Folgen wären nicht abzusehen. Ein Argument, das mit Bedacht gewählt sein dürfte: Wirtschaftlich riskante Initiativen haben die Schweizer bislang fast immer abgelehnt.

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