Meine Presseschau:Ach, Europa!

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(Foto: SZ-Zeichnung: Bernd Schifferdecker)

2015 war ein Jahr der europäischen Krisen. Viele Medien beschäftigten sich zum Jahreswechsel ausführlich mit dem Thema. Im Zentrum der Kommentare stand meist die Rolle Deutschlands und seiner Kanzlerin.

Ausgewählt von Alexander Mühlauer

Auch wenn ein Gipfel in Brüssel 17 Stunden dauert, eines ist gewiss: Ganz am Ende, wenn alles vorbei ist, erklärt Angela Merkel ihre Sicht der Dinge. Die Bundeskanzlerin sitzt dann immer vor einer blauen Wand im deutschen Pressesaal und versucht die Deutungshoheit zu wahren. 2015 gab es viel zu deuten, denn etwas hat sich verändert im europäischen Machtgefüge. Jahrelang dominierte Merkel die Politik der Europäischen Union. Im Kreis der Staats- und Regierungschefs hat niemand eine so lange Gipfel-Erfahrung wie sie. Doch in der Flüchtlingskrise ist es ihr nicht gelungen, die europäischen Partner hinter sich zu versammeln.

Das Krisenjahr 2015 mag die Position der Kanzlerin geschwächt haben, trotzdem wurde sie nicht nur vom Time Magazine zur "Person des Jahres" gekürt. Auch die Financial Times verlieh Merkel diesen Titel. Das Blatt aus London bewundert Merkels Mut in der Flüchtlingskrise. Aus der "vorsichtigen Schritt-für-Schritt-Kanzlerin" sei eine Politikerin mit "kühnen Überzeugungen" geworden. Dieser Wandel "war ein großer Schachzug und es ist alles andere als klar, ob er sich auszahlen wird". Falls ja, werde Merkel ihren Ruf als eine der großen deutschen Kanzler zementieren. Mit ihrer Entscheidung, Europas Türen für mehr als eine Million Flüchtlinge offen zu halten, werde Merkel ein Vermächtnis hinterlassen - so wie einst ihr Vorvorgänger Helmut Kohl mit der deutschen Wiedervereinigung und der Geburt des Euro. "Selbst wenn sie scheitert, hat sie einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen."

Weitaus weniger euphorisch bewertet die französische Tageszeitung Le Figaro die Rolle der Bundesrepublik in Europa. Das Blatt aus Paris beschreibt "Merkels Deutschland" als eine Kraft, die Europa erschüttert und dessen Macht zunehmend in Frage gestellt wird: "Die deutschen Lösungen werden kritisiert. Im Fall von Griechenland war Berlin für strikte Sparmaßnahmen. Athen wurde sogar gedroht, aus der Euro-Zone rausgeworfen zu werden. Es formierte sich eine erste anti-deutsche Koalition, um das zu verhindern." Und in der Flüchtlingskrise seien es nun vor allem die osteuropäischen Länder, die sich dem deutschen Kurs widersetzten. So stark und so leistungsfähig Deutschland auch sei, so umstritten sei die Rolle Berlins in der Europäischen Union.

Besonders kritisch sieht die in Brüssel erscheinende Ausgabe von Politico Merkels Charmeoffensive gegenüber der Türkei. Der EU-Deal mit Ankara zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms werde der Bundeskanzlerin zwar einen kurzfristigen Vorteil verschaffen, "weil sie zu Hause unter Druck steht und die Flüchtlingskrise nicht in den Griff bekommt". In der Zukunft werde dieser Plan aber für Ärger sorgen. Die Europäische Union verkaufe ihre liberalen Werte. "Die EU tut so, als kümmere sie sich um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Aber sie erwähnt diese Prinzipien kaum, weil sie Angst davor hat, Sultan Erdoğan zu verärgern. Er könnte ja dann weniger zugänglich sein, den Flüchtlingsstrom zu verlangsamen."

Die belgische Tageszeitung Le Soir wiederum warnt vor einem weiteren Problem, das die EU dieses Jahr zu bewältigen hat: dem drohenden Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft. Die Forderungen aus London könnten dazu führen, dass auch andere Mitgliedsländer Ausnahmen für sich reklamierten. "Dabei zeigt sich gerade in der Flüchtlingskrise wie sehr Europa eine Einheit braucht." Merkel jedenfalls will Großbritanniens Premierminister David Cameron dabei helfen, den Brexit zu verhindern. Hat sie gesagt, beim letzten Gipfel, vor der blauen Wand.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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