Megacity Moskau:Labor für ein neues Russland

Die Inhaftierung der drei "Pussy Riot"-Sängerinnen ist ein Beispiel für das grimmige Russland, in dem eine rechtsfreie Oligarchie dominiert und ein Präsident seine Macht mit Hilfe von Polizeieinsätzen stabilisiert. Doch in der Hauptstadt hat sich eine urbane Subkultur entwickelt, deren Anhänger sich nichts mehr verbieten lassen - und Putin eines Tages gefährlich werden könnten.

Michael Schindhelm

Moskau steht im Ruf einer grimmigen Stadt. In internationalen Städterankings zu Lebensqualität und Sicherheit rangiert die russische Hauptstadt irgendwo zwischen Afrika und dem Mittleren Osten. Andererseits lebt man heute nur in Tokio teurer. Dem Touristenführer "Tripadvisor" gilt Moskau als so ziemlich die unfreundlichste aller Städte. Hierzulande denkt man wohl zuerst an das eiserne Gesicht des alten und neuen Präsidenten, der vom Kreml aus mit Polizeieinsätzen ein Land in Aufruhr regiert. Die Inhaftierung der Sängerinnen von Pussy Riot ist dafür nur ein Beispiel.

A supporter of the female punk band 'Pussy Riot' is detained by police outside a court in Moscow

Subversive Protestkultur: Aktivisten bei einer Demonstration für die Punkband "Pussy Riot" in Moskau.

(Foto: REUTERS)

Aber es gibt auch eine andere Realität. In dieser Realität ist Moskau eine Metropole mit einem unnachgiebig radikalen urbanen Leben. Wer die Stadt in diesem Sommer besucht, wird Zeuge von Manifestationen auf Straßen und Plätzen. Neue Parteien (darunter auch kommunistische) werden gegründet. Oppositionsführer halten die Regierung auf Trab und spüren in Gesetzesvorlagen staatliche Versuche zur Einschränkung der Freiheit auf.

Moskau ist derzeit eine Stadt im Aufbruch. Man begegnet einer neuen Unerschrockenheit. Organisatoren von Kundgebungen planen sogar kurzfristige Festnahmen in ihren Protestkalender ein. Sie lassen sich nichts mehr verbieten. Kaum wird ein Blogger oder Journalist unter Druck gesetzt, entstehen neue Foren. Die Leute agieren mit illusionslosem Pragmatismus: Niemand rechnet mit einem Rücktritt Putins. Worauf es ankommt, ist der lange Atem. Und eine starke Basis.

Statt sozialer Marktwirtschaft entstand eine rechtsfreie Oligarchie

Moskau ist nicht Russland, und die mehrheitlich jungen Protestler verkörpern nicht die gesamte russische Bevölkerung. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Regierung auf eine Mehrheit verlassen kann. Aber was derzeit in diesem Land passiert, ist nicht mit der kurzlebigen Revolte einer unzufriedenen und zahlenmäßig geringen Mittelklasse zu erklären. Nie war so viel von Mitbestimmung und Selbstverwaltung die Rede. Die Streitigkeiten, die das neue Gesetz zur Behandlung von NGOs begleiteten, zeigen vor allem, wie relevant solche Organisationen geworden sind.

Als vor 21 Jahren protestierende Menschen gemeinsam mit dem Militär einen Putsch von kommunistischen Obristen verhinderten, sich die Sowjetunion auflöste und Boris Jelzin Russlands Staatspräsident wurde, beobachtete man das in Europa anfangs mit Neugier. Das Land Lenins schien auf dem Weg in eine Demokratie zu sein.

Aber bald wurde Jelzin krank und mit ihm litt die gesellschaftliche Entwicklung. Politische Reformen änderten nichts an der Macht alter Apparate. Anstatt sozialer Marktwirtschaft entstand eine rechtsfreie Oligarchie. Elend und Chaos überzogen das Land, während die neuen Superreichen in Monte Carlo das ehemalige Staatskapital in Yachten und Penthäuser investierten. Seitdem hatte sich das internationale Interesse an Russland merklich abgekühlt. Gut, man war auf seine Rohstoffe angewiesen und machte sich um den Zustand seiner Nuklearwaffen und Atomkraftwerke Sorgen, aber neue Impulse erwartete man jetzt eher von Staaten wie China, Indien oder Brasilien.

Russland bot seit dem Ende der Sowjetunion meist ein problematisches Bild. Seine Menschen verließen in hellen Scharen das Land, häufig Richtung Israel, USA oder Deutschland, unter ihnen allein circa 90.000 Wissenschaftler. Die Bevölkerung schrumpfte, die Geburtenrate war plötzlich halb so hoch, die Lebenserwartung sank rapide. Die Zahl der vorzeitigen Todesfälle (vor allem durch Alkoholismus) seit 1991 lag in der Größenordnung der Opfer, die man während des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte.

Wie groß Moskau wirklich ist, weiß niemand

Am Zustand der russischen Hauptstadt lässt sich ablesen, welche Veränderungen nicht nur das Ende des Kommunismus, sondern auch die Globalisierung über das Land gebracht haben. Hier verlaufen die Fronten zwischen Reform und Reaktion. Und die Fronten sind oftmals unsichtbar. Denn Moskau ist eine riesige Stadt, ein Labyrinth. Wie groß sie wirklich ist, weiß aufgrund der Dunkelziffern illegaler Wohnsitze niemand. Wahrscheinlich leben in Moskau mehrere Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Auch der Anteil von Zugezogenen ist umstritten und macht möglicherweise ein Drittel oder mehr aus. Die Mehrheit von ihnen sind vermutlich Muslime.

Durch einen Beschluss der Stadtregierung hat sich außerdem kürzlich das Territorium Moskaus mehr als verdoppelt. Während Russlands Bevölkerungszahl sinkt, wächst die seiner Hauptstadt. Angeblich würden bis zu 60 Millionen Russen bevorzugt in Moskau leben wollen. Das sind mehr als 40 Prozent der Landesbevölkerung. In Europas Osten ist eine Agglomeration herangewachsen, die an die Dimensionen von Shanghai oder Rio erinnert.

Diese Dynamik befördert neue Strategien zur Bewältigung des Alltags. Russlands Staat liebt zwar die Geste der Stärke, erweist sich aber in der sozialen Wirklichkeit oft als überfordert. Viele Menschen greifen zur Selbsthilfe, weil die Verwaltung ihnen die Unterstützung versagt. Die ehemals kommunistische Praxis des Subbotniks, freiwilliger unentgeltlicher Arbeit, hat in den Mikrorayonen Moskaus wieder Einzug gehalten.

Staatlich ungewolltes Experiment

Netzwerke wie Facebook, aber vor allem die einheimischer Herkunft, haben auch das Kommunikationsverhalten fundamental verändert. Russen verbringen doppelt so viel Zeit mit Sozialmedien wie der globale Durchschnitt. Anders als in China unterliegt das Internet keiner direkten politischen Zensur.

Der virtuelle öffentliche Raum hat sich in Russland zu einem Millionen-Forum gemausert, in dem viele Diskussionen geführt werden, die im realen öffentlichen Raum nicht möglich sind und einen immensen Einfluss auf das soziale Klima haben.

Die Impulse gehen von der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen aus. Sie bilden den Kern der neuen außerparlamentarischen Opposition. Viele von ihnen haben andere Länder gesehen, vielleicht dort sogar studiert oder gearbeitet. Sie kennen alternative soziale Systeme aus eigener Erfahrung und haben eine klare Meinung dazu, was Russland fehlt.

Internationalisierung, Telekommunikation, individuelle Verantwortung und schieres Wachstum haben aus der grimmigen Stadt Moskau ein urbanes Labor gemacht, in dem subversive Lebens- und Ausdrucksformen jetzt mit den vertrauten autoritären konkurrieren. Die einzige Megacity Europas befindet sich inmitten eines staatlich ungewollten Experiments, das über die Zukunft Russlands entscheidet. Das weiß Wladimir Putins Apparat so gut wie die außerparlamentarische Opposition.

Michael Schindhelm, 51, arbeitet als Schriftsteller und Kulturberater für internationale Organisationen. Derzeit leitet er am Strelka Institute in Moskau den Forschungsbereich öffentlicher Raum.

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