Medizin:Verarztet und vermurkst

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SZ-Grafik; Quelle: Medizinischer Dienst der Krankenkassen (Foto: SZ-Grafik)

Gutachter der Krankenkassen verzeichnen mehr Behandlungsfehler - trotz oder wegen besserer Patientenrechte.

Von Kim Björn Becker, München

Die 42-Jährige sollte wegen einer chronischen Entzündung an der linken Ferse operiert werden, doch als sie aus der Narkose erwachte, hatte sie plötzlich Narben an beiden Füßen. In einer Klinik in Nordrhein-Westfalen hatten sich die Ärzte aus Versehen zunächst an der falschen Seite zu schaffen gemacht. Sie bemerkten den Fehler noch im Operationssaal und setzten das Skalpell erneut an, diesmal am richtigen Fuß - ein klassischer Behandlungsfehler. Im vergangenen Jahr haben sich Patienten in 14 663 Fällen an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) gewandt, weil sie vermuteten, von Ärzten und Pflegern falsch behandelt worden zu sein - das sind 78 Verfahren mehr als noch im Jahr zuvor. Nicht jeder Fall war allerdings so eindeutig wie der chirurgische Eingriff am falschen Fuß, und nicht jeder Vorwurf gegen die Mediziner erwies sich letztlich als berechtigt. In jedem vierten Fall, also 3796 Mal, kamen die Gutachter zu dem Schluss, dass tatsächlich ein Behandlungsfehler vorlag und der Patient einen Schaden erlitten hat. Auch hier verzeichnet die Statistik für das vergangene Jahr 109 Fälle mehr als 2013. Etwa 1800 Patienten mussten in Folge einer falschen Behandlung länger in der Klinik bleiben als sonst, etwas mehr als 1000 von ihnen waren hingegen dauerhaft geschädigt. In 92 Fällen haben Behandlungsfehler gar zum Tod geführt oder maßgeblich dazu beigetragen. Eine belastbare Beurteilung der medizinischen Leistung deutscher Ärzte lassen die Zahlen aber nicht zu, dafür müssten sie ins Verhältnis zu allen Behandlungen gesetzt werden.

Gleichwohl geben die Befunde einigen Medizinern zur Sorge Anlass: "Von einer Entwarnung kann keine Rede sein", sagte Stefan Gronemeyer, stellvertretender Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands der Krankenkassen (MDS) am Mittwoch in Berlin bei der Vorstellung des Reports.

Vieles spreche dafür, dass die Dunkelziffer hoch sei, da etliche mögliche Behandlungsfehler von den Patienten gar nicht bemerkt würden, etwa weil ihnen medizinisches Fachwissen fehle. "Eine falsche Medikamentenkombination, die zum Nierenversagen führt, ist im Vergleich zu einer Operation auf der falschen Seite schwer zu erkennen." Man gehe davon aus, dass die erhobenen Zahlen lediglich die "Spitze des Eisbergs" darstellten. Genau das wollte die frühere schwarz-gelbe Bundesregierung eigentlich verhindern. Anfang 2013 trat das Patientenrechtegesetz in Kraft, es sollte sicherstellen, dass Ärzte die Behandelten umfangreich informieren - auch über mögliche Fehler. "Das Gesetz erweist sich als nicht patientenfreundlich. So kommen die meisten Behandlungsfehler weiterhin nicht ans Licht und geschädigte Patienten erhalten kein Recht", rügte Kathrin Vogler (Linke). Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, widersprach: Das Gutachten des MDK mit seinen gestiegenen Fallzahlen zeige, "dass die Maßnahmen wirken".

Etwa jeder zweite angenommene Behandlungsfehler steht im Zusammenhang mit Operationen. Daher gehen auch etwa zwei Drittel aller gemeldeten Fälle auf eine stationäre Behandlung im Krankenhaus zurück, bloß ein Drittel auf eine ambulante Versorgung bei niedergelassenen Ärzten - schließlich wird in Kliniken weitaus häufiger operiert. Die meisten festgestellten Behandlungsfehler waren dem Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie zuzuordnen (1258), gefolgt von der Zahnmedizin (476) und der Allgemein- und Bauchchirurgie (452). Mit fast 60 Prozent bestätigten die MDK-Gutachter aber die meisten Fälle in Pflege- und Altenheimen - dort gaben sie 341 von 590 Patienten recht.

Bezogen auf die Art der Behandlung waren die meisten berechtigten Beschwerden auf Zahnwurzelbehandlungen zurückzuführen (190), gefolgt vom Einsatz künstlicher Hüft- (139) und Kniegelenke (112). Beim Zahnersatz bestätigten die Prüfer 100 Patienten Behandlungsfehler, bei der Fixierung eines Knochenbruchs durch Platten oder Schrauben gab es 68 Fälle.

Vor allem aber sorgen sich die Gutachter um sogenannte Never Events, also Fälle, die schwerwiegend und zugleich leicht vermeidbar sind und daher überhaupt nicht vorkommen dürften. In 67 Fällen litten Patienten unter Hautgeschwüren aufgrund falscher Krankenpflege (Dekubitus), 34 Mal ließen die Operateure versehentlich Gegenstände im Körper ihrer Patienten zurück und in 25 Fällen erfolgte der Schnitt des Chirurgen tatsächlich am falschen Körperteil.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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