Médecins du Monde in Mali:"Wir sind in den humanitären Notfall-Betrieb gewechselt"

Die NGO Médecins du Monde ist nach dem Aufstand der Tuareg-Rebellen im Norden Malis geblieben. Seitdem hat sich ihre Arbeit deutlich verändert. Olivier Vandecasteele leitet die Mission aus der Hauptstadt Bamako. Im Gespräch mit der SZ erklärt er, welche Hilfe die Menschen in der Region brauchen, welche Bedeutung das Prinzip der Unparteilichkeit hat, und warum er sich nicht um seine Mitarbeiter sorgt.

Caroline Ischinger

Olivier Vandecasteele, 32, leitet aus der Hauptstadt Bamako die Mission der belgischen Nichtregierungsorganisation Médecins du Monde (MDM) in Mali. MDM konzentriert sich auf medizinische Versorgung, der deutsche Zweig heißt "Ärzte der Welt". In Mali ist sie eine der wenigen Hilfsorganisationen, die nach Rebellion und Unabhängigkeitserklärung der Tuareg im Norden noch aktiv sind. Während in der Hauptstadt die Macht nach dem Militärputsch am 21. März inzwischen an eine zivile Übergangsregierung übergeben wurde, kontrollieren den Norden weiterhin Tuareg und Islamisten. Vandecasteele kennt sich aus mit Krisengebieten: Vor seinem Einsatz in Mali, der im Februar begann, hat er von 2008 bis 2011 für MDM in Afghanistan gearbeitet. Zur politischen Situation im Norden Malis äußert sich Vandecasteele nicht. MDM ist unpolitisch und arbeitet unabhängig, nach dem humanitären Prinzip der Unparteilichkeit. Jedem seiner Gesprächspartner am Telefon sagt Vandecasteele, dass das Mandat streng medizinisch ist.

Médecins du Monde in Mali: Bamako, Mali: Verteilung von Hilfsgütern

Bamako, Mali: Verteilung von Hilfsgütern

(Foto: AP)

Süddeutsche Zeitung: Médecins du Monde ist eine der letzten Nichtregierungsorganisationen, die noch im Norden Malis aktiv ist. Wie viele Menschen arbeiten dort für sie?

Olivier Vandecasteele: Derzeit sind für uns mehr als 60 Mitarbeiter aus dem Gesundheitsbereich in den Regionen Gao und Kidal im Einsatz. Die einzige Region, in der wir nicht aktiv sind, ist Timbuktu. Aber dort waren wir auch vorher nicht. Wir haben unsere Mission im Norden Malis nicht zurückgestuft, allerdings haben wir unsere Arbeit eindeutig an die neuen Umstände angepasst.

SZ: Was bedeutet das konkret?

Vandecasteele: Als die Sicherheit abnahm, haben wir im Februar alle langfristigen Programme beendet und sind in den humanitären Notfall-Betrieb gewechselt. Der Staat als Autorität und Dienstleister für die Bevölkerung ist Schritt für Schritt aus dem Norden verschwunden, seit die Rebellion im Januar begann. Deshalb setzt MDM nun alle Gesundheits- und Ernährungsprogramme eigenständig um.

SZ: Auf was für eine Unterstützung konzentrieren Sie sich jetzt?

Vandecasteele: Unsere Mitarbeiter bieten medizinische Grundversorgung und Nahrungsmittelhilfe, weil das für die vertriebene Bevölkerung jetzt dringend gebraucht wird. Es gibt keine einzige vom Staat betriebene Einrichtung zur medizinischen Versorgung mehr in Kidal, Gao oder Timbuktu, weder große Krankenhäuser noch kleine Ämter. Die Mitarbeiter, die dort gearbeitet hatten, haben vom Staat seit März keinen Lohn bekommen, das Bankwesen ist lahmgelegt. Unsere Teams haben die am meisten gefährdeten Gruppen der Bevölkerung ausgemacht - das sind insbesondere die im eigenen Land vertriebenen Familien, die vor den Kämpfen geflohen und im Busch gelandet sind. Wir erleben schwangere Frauen, junge Kinder und alte Leute, die wenig Unterstützung haben. Weil die Stadt Kidal kein Krankenhaus mehr hat, haben wir angeboten, die Einrichtung zu übernehmen und zu betreiben. In der Stadt Gao sollten wir in den nächsten Tagen in der Lage sein, wieder etwas medizinische Grundversorgung anzubieten. Außerdem analysieren unsere Teams durch Untersuchungen, wie es mit der Mangelernährung aussieht.

Mangelernährung, Plünderungen und Krankheiten

SZ: Und was haben die Untersuchungen ergeben?

Vandecasteele: In Gao erleben wir eine steigende Zahl schwerer Fälle. Es sind noch nicht Hunderte, aber es gibt Kinder, die dringend behandelt werden müssen und wir versuchen jetzt, diese Hilfe nach Gao zu bringen. Allerdings haben wir nicht alles selbst vorrätig. Normalerweise sind wir auf Partner angewiesen, wie Unicef oder das Welternährungsprogramm, um uns auszustatten. Was die Lebensmittelvorräte angeht, ist es so, dass sich die Lagerhallen für den Norden Malis überwiegend in Gao befanden. Die meisten wurden geplündert. Der größte Teil der Vorräte, die bereitlagen, um auf die Ernährungskrise in den nächsten Monaten zu reagieren, ist verschwunden. Das Reaktionsvermögen wird nun Schritt für Schritt wiederaufgebaut, aber das braucht leider Zeit. Was die Gesundheitsversorgung angeht, können wir niemanden verweisen, der irgendetwas Dringenderes hat und mehr als die Grundversorgung benötigt.

SZ: Was sind derzeit die größten Gesundheitsprobleme im Norden?

Vandecasteele: Die sind sehr, sehr vielfältig. Die Schwierigkeit im Norden Malis ist, dass dort schon vor der Krise nur eine Handvoll Nichtregierungsorganisationen tätig war. Es war offenkundig ein Gebiet, dem kein Vorrang bei der Entwicklung gegeben wurde. In der Region Kidal sind im Moment nur zwei Nichtregierungsorganisationen übrig, beide aus dem Gesundheitswesen: Ärzte ohne Grenzen und wir. Meine Organisation versucht, 70 bis 80 Prozent des Gebiets abzudecken. Es bereitet uns große Sorge, dass alle Entwicklungspartner ihre Programme beendet haben. Die beiden Organisationen, die übrig sind, können offensichtlich nicht allein die Bedürfnisse der Bevölkerung abdecken.

SZ: Sie rufen andere NGOs dazu auf, ihre Arbeit wiederaufzunehmen?

Vandecasteele: Natürlich. Die verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, die in Mali präsent sind, sollten definitiv versuchen, auf die humanitären Bedürfnisse im Norden zu reagieren. Neben der Gesundheitsversorgung gibt es all die anderen Belange vertriebener Menschen, denen man sich widmen sollte, zum Beispiel Nahrung, Schutzorte, Wasser und Sanitäranlagen sowie die besondere Verwundbarkeit von Frauen und Kindern in Konflikten. Aber die NGOs sollten vorsichtig sein, wie sie ihre Programme unter den neuen Umständen umsetzen. Es muss eine sorgsame Analyse und Planung geben. Man kann den Zugang aushandeln, wenn das Mandat streng humanitär ist - das bedeutet: unpolitisch und basierend auf den Prinzipien Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Ich persönlich bin besorgt über die Art und Weise, wie Hilfe in den nächsten Wochen und Monaten von allen Konfliktparteien instrumentalisiert werden könnte, um die "Herzen und Köpfe" der Bevölkerungen zu gewinnen. Aus meiner Afghanistan-Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass solche Herangehensweisen nicht funktionieren und die breitere Hilfsgemeinschaft gefährden können - inklusive die wenigen echten humanitären Nichtregierungsorganisationen wie Médecins du Monde.

SZ: Machen Sie sich keine Sorgen um ihre Mitarbeiter im Norden?

Vandecasteele: Ich bin nicht über die tagtägliche Sicherheit unserer Mitarbeiter besorgt. Wir haben keinen einzigen Vorfall erlebt, der uns gegolten hat. Sobald wir eine Bedrohung erkennen würden, die gegen MDM als Organisation oder Mitarbeiter von uns gerichtet ist, könnte das unsere Arbeitsweise verändern. Vorerst überwiegen die Vorteile unserer Präsenz und unserer Arbeit für die Zivilbevölkerung eindeutig die Risiken, die wir aufnehmen.

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