MdB Karl Lauterbach:Der Herr Professor aus Köln

Mediziner, Funktionäre und manche Politiker hassen ihn. Er ist der Lieblinglingsgegner der Pharmalobbyisten. Jetzt sitzt Karl Lauterbach, der Prophet der Bürgerversicherung, für die SPD im neuen Bundestag. Der Gesundheitsexperte könnte in der SPD-Fraktion eine wichtige Rolle spielen.

Andreas Hoffmann

Der Anruf war ein Schlag in die Magengrube; Karl Lauterbach empfindet es noch heute so: Wichtige Sozialdemokraten aus seinem Wahlkreis würden zur Linkspartei wechseln, lautete die Warnung. Lauterbach dachte an die nächsten Tage, an die Schlagzeilen, die hämischen Worte der Gegner, und wollte sich am liebsten auf eine Insel verkriechen.

Karl Lauterbach

Der Prophet der Bürgerversicherung - Karl Lauterbach.

(Foto: Foto: dpa)

In seinem Kopf lief ein kleiner Film ab, der Titel: "SPD-Professor floppt im Wahlkampf". Oder: "Eigene Partei kehrt Kandidat den Rücken". Wenn er heute an jenen Tag im August denkt, sagt er: "Da habe ich gedacht, die Kandidatur für den Bundestag war vielleicht ein Fehler."

War es aber nicht. Karl Lauterbach hat es geschafft, der Berater von Sozialministerin Ulla Schmidt, das Lieblingshassobjekt der Ärzte und eifrigster Befürworter der Bürgerversicherung, bei der die Grenze zwischen Kassen und Privatversicherern fallen soll. Er sitzt im neuen Bundestag. 49 Prozent der Erststimmen hat er im Wahlkreis Leverkusen-Köln IV bekommen, was ungewöhnlich ist, wenn man bedenkt, dass der SPD-Mann auch Professor ist und die sich im Wahlkampf manchmal selbst im Weg stehen, wie der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof bewiesen hat.

Kühne Thesen

Lauterbach schmunzelt beim Namen Kirchhof. Er sitzt in einem jener Cafés in der Mitte Berlins, das Politiker, Lobbyisten und Journalisten als erweitertes Wohnzimmer betrachten. Vor ihm ein Glas San Pellegrino und ein Salatteller, dem er sich kaum widmen kann, weil ständig das Handy klingelt oder sich ein Verbandsmensch dem Tisch nähert und Lauterbach beglückwünschen will.

Der steht auf, schüttelt Hände und wundert sich, wie freundlich jene sind, die sonst schlecht über ihn reden. Er sieht aus wie immer. Dunkler Anzug, weißes Hemd, bunte Fliege, die Haare zur Pennälerfrisur gelegt, mit der er problemlos zu jeder Abiturientenfeier gehen könnte. Irgendwann sagt er: "Ich bin nicht der typische Professor, sondern ein Political animal."

Stimmt: Lauterbach bewirft die Zuhörer nicht mit Statistiken und gedrechselten Expertensätzen. Er sagt: "Manche Rabatte der Pharmaindustrie an die Apotheken sind eine Form indirekter Bestechung." Oder: "Viele Ärzte hierzulande haben kein Einkommensproblem, sondern ein Qualitätsproblem." Deswegen holen die Journalisten ihn vor die Mikrofone.

Terrible Simplificateur

Und deswegen hassen ihn Mediziner, Funktionäre und manche Politiker. An Lauterbach arbeiten sich alle ab. Die einen sehen in ihm den Kämpfer gegen die Gesundheitslobby. Die anderen den terrible simplificateur, der sich die Fakten nach dem Weltbild zurechtlegt. Selbst Wohlmeinende wundern sich über seine kühnen Thesen und sagen: "Bei ihm gehen Rechnungen immer auf."

Kritik stört Lauterbach nicht. Er genießt sie wie das Scheinwerferlicht. Und er hat Einfluss. Kungelt mit Kassen und Gewerkschaften, besitzt einen Draht zu SPD-Parteichef Franz Müntefering, saß im Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen, was er nun aufgegeben hat, war Mitglied in der Rürup-Kommission. Dort lieferte er sich mit dem anderen SPD-Professor, dem Sozialexperten Bert Rürup, einen Schlagabtausch um Gesundheitsreformen.

Er will eine Bürgerversicherung, Rürup eine Kopfpauschale, bei der gesetzlich Versicherte einen Einheitsbeitrag zahlen sollen und Arme einen Zuschuss erhalten. Der Streit hätte die Expertenrunde fast zerrissen, doch man entschärfte den Konflikt. Weil Rürup und Lauterbach geschickt mit Macht und Medien umgehen können, wird seit zwei Jahren weiter diskutiert. Die Parteien entdeckten eine neue Schicksalsfrage, obwohl beide Modelle kaum realitätstauglich sind.

Keine Lust auf Folien

Warum er dann noch in den Bundestag wollte? Lauterbach hat auf diese Frage gewartet. Er zieht seine Jacke aus, nippt am Mineralwasser und erzählt. Von seiner Zeit in den USA, wo es üblich ist, dass Wissenschaftler in die Politik wechseln, weshalb ihm seine früheren Dozenten kürzlich zum Wechsel rieten. Davon, dass er keine Lust mehr hatte, Folien aufzulegen, sondern Politik machen wollte.

Als er am 22. Mai im Düsseldorfer Apollo-Theater auf der traurigen SPD-Wahlparty stand und Müntefering im Fernsehen Neuwahlen ausrief, dachte er, jetzt musst Du Dich entscheiden. Er stellte sich Ortsvereinen in Köln vor, weil dort ein Wahlkreis frei geworden war, den die SPD regelmäßig gewonnen hatte, und holte in einer Kampfabstimmung das Mandat. Einen sicheren Listenplatz bekam er nicht.

Der Herr mit den vielen Plakaten

Nun wollte er ein wenig Bill Clinton spielen. Dessen Wahlkampf hatte er 1992 in den USA miterlebt und auch mit einigen seiner Berater gesprochen. Also untersuchte ein Institut seinen Wahlkreis und teilte die Viertel auf, wo die Wähler ihre Stimmen splitten, wo sie zwischen SPD und CDU wechseln und wo sie regelmäßig SPD wählen. Auf diese Gegenden konzentrierte er sich, die konservativen beackerte er nicht.

An einer viel befahrenen Straße ließ er Dutzende Lauterbach-Porträts hintereinander aufstellen, was für Ärger in den Lokalzeitungen sorgte, aber später sagten die Leute zu ihm: "Ach, Sie sind der Herr mit den vielen Plakaten."

Dann waren da die politikfernen Wähler in einigen Vierteln, die sich eher für Kampfhunde und Karate interessieren als für Kirchhof. Mit ihnen redete der ausgebildete Mediziner über Bluthochdruck und zwickende Knie ("Krankheiten sind ein guter Eisbrecher für jedes Gespräch") und war bald bei seinem Lieblingsthema Bürgerversicherung. SPD-Prominente wie Peer Steinbrück, Ulla Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Andrea Nahles oder Sigmar Gabriel marschierten auf, mit denen er Bürger-Fragerunden auf der Straße veranstaltete.

Blutiges Brauchtum

Doch nicht alles ließ sich planen. Einmal landete er beim Broschürenverteilen in einer Kneipe mit NPD-Sympathisanten, was fast in einer Schlägerei endete. Auf einem Schützenfest musste er den alten Brauch des Hahneköppens ertragen, bei dem Männer mit verbundenen Augen versuchen, einem toten Hahn den Kopf abzuschlagen.

Und dann kam jener Anruf im August. Er lag ohnehin hinter dem CDU-Gegenkandidaten, und jetzt wollte ihn ein Teil der Genossen verlassen. Das hätte verheerend werden können. Doch Lauterbach nutzte seine Medienkontakte, und am Ende schadeten ihm die abtrünnigen Genossen kaum.

Und nun? Bleibt er einfacher Abgeordneter? Reiht er sich ein? Er schweigt zu seinen Plänen. Lauterbach könnte einiges werden, weil viele SPD-Gesundheitspolitiker das Parlament verlassen haben. Er könnte sogar Fraktionsvize werden und sich zum neuen Rudolf Dreßler aufpumpen.

Er kennt die Noch-Wichtigen, und jene, die bald wichtig werden. Karl Lauterbach ist ein Machtfaktor geworden. Er weiß das. Aber er sagt es nicht. Spielt den Strategen. In der ersten Fraktionssitzung, als sich alle neuen Abgeordneten vorgestellt hatten, sagte er mit Blick auf Kirchhof nur, er möchte nicht als "der Herr Professor aus Köln" bezeichnet werden. Es wird nicht die einzige Bitte bleiben.

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