Mayday-Aktion von "Occupy Wall Street":Rückkehr der Kapitalismuskritiker

Im Winter war sie abgetaucht, viele hatten die Occupy-Bewegung für erledigt erklärt. Doch nun melden sich die selbsternannten 99 Prozent zurück. In New York marschierten Tausende zur Wall Street, um gegen die Macht der Banken zu demonstrieren. Wurde die Bewegung am 1. Mai tatsächlich wiederbelebt?

Matthias Kolb, New York

Larry schreit gegen seine Wut an. Immer wieder ruft der 27-Jährige: "Banks got bailed out!" Sekunden später schallt ihm aus Dutzenden Kehlen "We got sold out" entgegen, worauf Larry erneut seinen Satz den New Yorker Hochhäusern entgegen brüllt. Er ist einer der vielen Sympathisanten der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die vom Bryant Park in Richtung Union Square marschieren.

May Day protests in New York

Tausende protestierten in New York gegen die Banken und Wall Street.

(Foto: dpa)

Larrys Frust hat einen konkreten Grund: "Ich habe gerade meinen Master in BWL gemacht und 85.000 Dollar Schulden." Es würde 25 Jahre dauern, diesen Betrag abzuzahlen, doch seit der Finanzkrise gibt es nur wenige gut bezahlte Jobs für Uni-Absolventen wie Larry. Der Slogan "Die Banken wurden gerettet, wir wurden verkauft" hat für ihn eine besondere Bedeutung.

Die Erwartungen an die Aktionen am Mayday waren groß. Würden genügend Menschen in New York und dem Rest Amerikas auf die Straßen gehen, um zu zeigen, dass die kapitalismuskritische Bewegung noch am Leben ist? Nachdem die Polizei im November 2011 das Zeltlager im New Yorker Zuccotti Park geräumt hatte, waren die Aktivisten nur noch zu Treffen ihrer eigenen Arbeitsgruppen zusammengekommen und hatten sich ansonsten nur noch im Freundeskreis ausgetauscht. "Alles hängt davon ab, was am 1. Mai und danach passiert", hatte der Essayist Mark Greif, inoffizieller Occupy-Vordenker, Ende April der Süddeutschen Zeitung gesagt.

Auf Greifs Fragen, ob das Programm die Massen anziehen werde, konnte auch die 25-jährige Mary, die seit Januar an der Organisation des 1. Mai beteiligt ist, an diesem regnerischen Vormittag keine Antwort geben. Bis zum Mittag hatten sich im Bryant Park mitten in Manhattan einige Hundert Occupier versammelt, die von einem Großaufgebot an Polizisten kritisch beobachtet und von Dutzenden Journalisten befragt wurden.

"Es erschien uns sehr logisch, den 1. Mai als Aktionstag auszuwählen", berichtet Mary, die als Grafikdesignerin arbeitet und eine große Hipsterbrille trägt. Weltweit träfen sich Arbeiter an diesem Feiertag zu Versammlungen - mit Ausnahme der USA. "Das ist traurig, denn die Proteste der Arbeiter auf dem Haymarket Square in Chicago 1886 waren eine wichtige Inspiration für diesen Feiertag", erklärt Mary. Es sei also nur folgerichtig, den 1. Mai für die 99 Prozent zurückzufordern.

Männer mit Guy-Fawkes-Masken halten Schilder mit "Capitalism is the crisis" in die Luft, ein Mann fordert eine strengere Regulierung der Banken, während eine Frau gegen die Drohnen-Einsätze der CIA in Pakistan protestiert. "Edukashin pls" wünscht sich eine Schülerin, die sich den Besuch eines Colleges nicht leisten kann. Per Mic-Check, einem menschlichen Mikrofon, lädt eine Aktivistengruppe zur "Illegal Workers' Rights Tour" ein: Sie führt an Restaurants, Banken und Geschäften vorbei, die alle vom prekären Status der illegalen Einwanderer profitieren. Die Vielzahl der Proteste und Aktionen (einen guten Überblick gibt diese Übersicht) wirkt sympathisch, aber zugleich etwas unübersichtlich.

"Die Hoffnung ist wieder da"

An dieser Offenheit hat Mitorganisatorin Mary nichts auszusetzen. Ebenso wie das Camp im Zuccotti Park sei dieser Tag eine Einladung an jene Bürger, die sonst nicht politisch aktiv seien, sich zu engagieren und ihren Unmut zu äußern. Sie sollten spüren, dass sie mit ihren Alltagssorgen nicht allein seien. "Ich hoffe sehr, dass der Mayday einen Neubeginn markiert. Es ist Frühling und an den Problemen hat sich nichts geändert", sagt Mary, bevor sie an das andere Ende des Parks verschwindet, wo sich die "Occupy Guitarmy" zur ersten Probe trifft.

Occupy Wall Street Movement Joins With Activists Group For May Day Demonstrations

Tom Morello von Rage Against the Machine bei den Protesten in New York.

(Foto: AFP)

Unter Anleitung von Tom Morello, dem Gitarristen der Rap-Metal-Band Rage against the machine, studieren etwa 80 Leute auf ihren Akkustikgitarren einen Song ein. Per Mic-Check werden die Teilnehmer daran erinnert, dass dieser Teil des Marschs offiziell nicht erlaubt ist und deswegen alle auf den Bürgersteigen bleiben sollen. Als sich die Gruppe, die aus einigen hundert Aktivisten besteht, um 14 Uhr in Bewegung setzen, reißt die Wolkendecke auf und die Sonne kommt hervor.

Kurz nachdem Larry über seine Schuldenlast gesprochen hat, beginnt das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei: Einige Dutzend Occupier laufen auf die Fifth Avenue hinaus und fordern Passanten auf, ihnen zu folgen. Die Beamten, die auf Motorrollern für Ordnung sorgen sollen, lassen sie gewähren. Es wird gesungen, getanzt, geschrien und gelaufen. Viel früher als geplant kommen die Teilnehmer am Union Square an und sofort geht ein Teil der Menge verloren. Einige reihen sich im Starbuck's zwischen Journalisten und Polizisten in die Schlange vor den Toiletten ein, andere sonnen sich im Park, trommeln vor sich hin oder blättern in den verteilten Broschüren.

Auch auf der Bühne herrscht Vielfalt: Die "Occupy Guitarmy" spielt tritt erneut auf, bevor verschiedene Gewerkschaften auf Englisch und Spanisch ihre Forderungen verlesen. Aktivistinnen aus der Dominikanischen Republik protestieren gegen Gewalt gegen Frauen, Rapper aus der Bronx verurteilen Polizeigewalt und immer wieder wird die Entmachtung des obersten Prozent gefordert. Die Stimmung ist gelöst und locker, bei einigen Demonstranten kommen alte Gefühle hoch. "Im Herbst war alles neu, nun ist eine gewisse Nostalgie zu spüren", sagt Mitorganisator Mark Bray.

Bei weiterhin strahlendem Sonnenschein und unter lauten "Occupy! Wall! Street!"-Rufen beginnt der Marsch in Richtung der Finanzmeile. Während das Occupy-Presseteam von zehntausenden Teilnehmern spricht, schreiben die meisten Medien von "einigen tausend Demonstranten", die den Broadway hinunterlaufen. Touristen bleiben staunend stehen, aus den Geschäften kommen Verkäufer und zücken ihre Smartphones, um Fotos zu machen.

Obama ist das kleinere Übel

Abgesehen von einem Jesus-Imitator, der ein Holzkreuz trägt, wird eine Frau mittleren Alters besonders oft fotografiert. Sie trägt ein Plakat, auf dem Porträts von Mitt Romney und Barack Obama sowie der Satz "2 parties, one master. The criminal elite" zu sehen sind. Sie ist überzeugt, dass es keine Rolle spielt, wer am 6. November die Wahl gewinnt. Erst wenn das Leiden noch viel größer werde, würden die Bürger aufwachen und das System stürzen.

Ähnlich radikale Meinungen sind von Occupy-Anhängern öfter zu hören. Die Enttäuschung über Barack Obama, der so viel Wandel versprochen und so wenige Versprechen gehalten hat, ist überall zu spüren. Auch Larry, der BWL-Absolvent mit den hohen Schulden, hat das Gefühl, dass seine Stimme weniger wert sei als die der Reichen. Dennoch hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben und wird deswegen in einem halben Jahr zur Wahl gehen: "Ich werde für Obama stimmen, weil er das kleinere Übel ist. Und wir von Occupy werden dafür sorgen, dass im Wahlkampf noch mehr über die soziale Ungleichheit in Amerika geredet wird - und dass der Präsident in seiner zweiten Amtszeit etwas dagegen unternehmen wird."

Während die Polizei in Oakland Tränengas einsetzte und in Seattle am 1. Mai Fensterscheiben zu Bruch gingen, blieb es in New York weitgehend friedlich. Einige Fotografen seien vom Schwarzen Block attackiert worden; insgesamt wurden laut New York Times 30 Demonstranten festgenommen.

Wenige Blocks vor dem Zuccotti Park steht Mark Greif auf dem Bürgersteig und blickt freudestrahlend in alle Richtungen. Er hält eine letzte Ausgabe der Occupy Gazette in der Hand, die er mit anderen Kollegen vom n+1-Magazin herausgibt, und ist sehr zufrieden. Ihn stimmt es vor allem optimistisch, dass sich so viele Gewerkschaftler beteiligt haben und dass sich diese mit dem Slogan "Wir sind die 99 Prozent" identifizieren können. Greifs Bilanz ist positiv: "Natürlich weiß niemand, wie es weitergehen wird. Aber die Hoffnung ist wieder da."

Linktipps: Die New York Times hat Bilder über die Mai-Proteste in der Metropole in einer eindrucksvollen Slideshow zusammengefasst. In der Washington Post wurde jüngst genau beschrieben, wie sich einige Gruppen der Occupy-Bewegung dafür einsetzen, die Finanzmärkte stärker zu regulieren und eigene Ideen entwickeln.

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