Matthias Platzeck:Ein Mann, ein Schlusswort

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Verschleppte Krankheit, Überforderung - oder beides? Matthias Platzeck hat die "schwerste Entscheidung" seines Lebens getroffen.

Nico Fried

Na klar, es wird gescherzt unter den Journalisten im Willy-Brandt-Haus. Immerhin ist es der achte Rücktritt eines SPD-Vorsitzenden in 19 Jahren, hat ein Reporter bereits ausgerechnet. Und die Halbwertszeit wird immer kürzer. Franz Müntefering anderthalb Jahre, Matthias Platzeck keine fünf Monate, wenn das so weiter geht, hat die SPD bald keine Kandidaten mehr für das Amt des Parteichefs. Zynismus, Berlin, Hauptstadtbetrieb. Doch dann legt Matthias Platzeck diesen Auftritt hin, einen Auftritt, der es wirklich in sich hat.

Traurig und niedergeschlagen: Matthias Platzeck (Foto: Foto: ap)

Er kommt ein paar Minuten zu spät zur offiziellen Verkündung dessen, was sich in den zweieinhalb Stunden seit der ersten Agentur-Eilmeldung um Punkt neun Uhr längst herumgesprochen hat. Die ohnehin schmalen Lippen unter seinem Vier-Tage-Bart hat Platzeck fest zusammen gekniffen. Er steht jetzt links von der bronzenen Willy-Brandt-Statue und blickt genau auf jene gegenüberliegende Seite in der Parteizentrale, wo er Anfang November von Franz Müntefering als dessen Nachfolger vorgestellt wurde. Damals hat er ernst geschaut, aber jetzt, an diesem Morgen, sieht er mit seinem traurigen Gesicht, mit seinen leicht geröteten Augen, einfach nur niedergeschlagen aus.

"Ausgesprochen schöne Erfahrungen"

Er habe in den vergangenen Tagen "die schwerste Entscheidung meines bisherigen Lebens" treffen müssen, sagt Platzeck. Auf "dringenden ärztlichen Rat" hin lege er den Parteivorsitz nieder. Dann zieht er eine Art Bilanz seiner Arbeit, zählt all die Diskussionen auf, die er mit angestoßen habe, Familienpolitik, Energie, Grundsatzprogramm, spricht von den "ausgesprochen schönen Erfahrungen", die er in diesen fünf Monaten habe machen dürfen. Aber dies, sagt Platzeck, sei eben nur die eine Seite, "die Seite der Aktivitäten".

Was nun folgt, ist vielleicht die eigentliche Überraschung an diesem Tag. Es ist die Verlesung der Krankenakte Matthias Platzeck durch ihn selbst, ein medizinisches Bulletin, das weitaus dicker und erschütternder ist, als selbst enge Vertraute bisher geahnt haben. Ende des vergangenen Jahres habe ihn bereits ein erster Hörsturz getroffen. "Den habe ich nicht ernst genommen", erzählt Platzeck. Am 11. Februar habe er dann einen Kreislauf- und Nervenzusammenbruch erlitten. Danach habe es "sieben oder acht Tage gebraucht, bis wieder alles richtig tickte". Es waren jene Tage, in denen Platzeck laut offiziellen Verlautbarungen mit einer Grippe im Bett lag. Am 29. März dann traf ihn ein zweiter Hörsturz, genau an jenem Tag, an dem die Spitzen der Koalition abends das erste Mal zu einem Gespräch über die Gesundheitsreform verabredet waren.

Spätestens von diesem Tag an muss Platzeck mit sich gerungen haben. Ganz offensichtlich fiel die Entscheidung zuerst zugunsten des Weitermachens. Der SPD-Chef bereitete ein Thesenpapier zur Diskussion über das SPD-Grundsatzprogramm vor, das er dem Spiegel überließ. Am Montag, dem Tag seines Rücktritts, erschien der Text. In einer Einführung titelte das Magazin: "Platzeck meldet sich zurück."

Doch schon im Laufe der vergangenen Woche hatte der sich offenbar anders entschieden. Am Dienstag telefonierte er mit Kurt Beck, seinem ersten Stellvertreter, und schilderte ihm seinen Gesundheitszustand. Die zwei Politiker, die beide sagen, sie seien sich in den vergangenen Monaten menschlich näher gekommen, erwogen zunächst eine andere Arbeitsteilung, mit der Platzeck entlastet werden sollte.

Am Donnerstagabend traf sich Platzeck dann mit Franz Müntefering und Beck in Berlin. In diesem Gespräch ging es bereits um einen möglichen Rücktritt. Beck hatte sich noch kurz zuvor mit Journalisten in Berlin getroffen, "im Stande der Unschuld", wie Vertraute beteuern. Soll heißen: Er rechnete noch nicht damit, den Parteivorsitz übernehmen zu müssen. Nach dem Dreiertreffen aber war es so gut wie sicher. "Nur noch Zehntelprozentpunkte" hätten dagegen gesprochen, erinnert sich einer der Teilnehmer. Am Wochenende entschied sich Platzeck endgültig, am Sonntagabend unterrichtete er die engste Führungsspitze der Partei und Angela Merkel. Am Montagmorgen erklärte er sich im Parteipräsidium. "Ich habe schon viele Rücktritte erlebt", sagt einer, der dabei war. "Aber keiner hat viele einfach menschlich so betroffen gemacht."

"Habe meine Kräfte überschätzt"

Es gebe "keine andere verantwortliche Entscheidung, als einen Strich zu ziehen", sagt Platzeck nun im Willy-Brandt-Haus. Es habe keinen Sinn, "weiter gegen die Wand zu laufen". Er sei ein Mensch, der etwas ganz oder gar nicht tue. Im November, als er sich bereit erklärte, den Parteivorsitz zu übernehmen, damals, sagt Platzeck, "habe ich meine Kräfte überschätzt". Das ist schon ein bemerkenswerter Satz für einen Politiker.

Ja, es ist der achte Rücktritt eines SPD-Vorsitzenden in 19 Jahren, aber alle anderen hatten vor allem mit Politik im eigentlichen Sinne zu tun, mit einer Affäre wie bei Björn Engholm, mit Krisen der Partei wie bei Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Franz Müntefering, mit politischem Narzissmus wie bei Oskar Lafontaine. Bei Platzeck, dem 52 Jahre alten Bergsteiger und Langstreckenläufer, der selten ging, meistens stürmte, der fitter, jugendlicher wirkte als seine Vorgänger, bei diesem Matthias Platzeck ist es zwar auch die Politik, die den Rücktritt erzwungen hat, aber auf eine andere, geradezu tragische Weise.

Leute, die sich mit dem Berliner Betrieb auskennen, hatten Platzeck gewarnt. Die Bundespolitik, das ist was anderes als Potsdam, hatte dem Ministerpräsidenten zum Beispiel Jörg Schönbohm gesagt, Platzecks Brandenburger Vize von der CDU, der einst Staatssekretär im Verteidigungsministerium war. Den ganz großen Sprung hatte Platzeck zuvor ja auch schon abgelehnt: Gerhard Schröder und Franz Müntefering wollten ihn während der Koalitionsverhandlungen sogar zum Außenminister machen. Platzeck begründete seinen Verzicht mit dem Wahlversprechen, in Brandenburg zu bleiben. Aber er wusste wohl auch, dass eine solche Beförderung eine Nummer zu groß gewesen wäre. Der Satz "Ich bin ein Provinz-Ei", wurde ihm damals zugeschrieben. So habe er das nie gesagt, hat Platzeck später beteuert und doch lernen müssen, dass sich manche Dinge nicht mehr wegreden lassen, wenn sie einmal in der Welt sind.

Er konnte nicht Nein sagen

Aber damals, am Reformationstag 2005, nach Münteferings Rücktritt als Parteichef, hätte Platzeck unmöglich Nein sagen können. Es kamen ja überhaupt nur er und Kurt Beck in Frage. Beck lehnte ab, er hatte die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz vor sich. Der Parteivorsitz fiel Platzeck zu, wie schon so manches Amt zuvor, Umweltminister in Brandenburg, Oberbürgermeister in Potsdam, Ministerpräsident. Doch wie er bei den Landtagswahlen 2004 den Posten als Regierungschef auf dem Höhepunkt der Hartz-IV-Proteste verteidigte, imponierte vielen in der SPD. Auch Gerhard Schröder, der keine Gelegenheit ausließ, Platzeck zu loben. "Das ist ein Guter", sagte der Kanzler im Bundestagswahlkampf, als er ahnte, dass er nicht mehr lange Kanzler sein würde.

Auf dem Parteitag in Karlsruhe, als er mit 99,4 Prozent gewählt wurde, legte Platzeck einen starken Auftritt hin. Er hielt eine schwungvolle Rede voller Zuversicht, versprach einen neuen Stil, offene Diskussionen, mehr Gemeinsamkeit. Das war zunächst willkommen in einer Partei, die von Gerhard Schröder überfordert und von Franz Müntefering mit harter Hand geführt worden war. Doch die Euphorie währte nicht allzu lange, alsbald offenbarte sich, dass man es einer Partei wie der SPD nur schwer recht machen kann. Ging es vielen Sozialdemokraten vorher zu streng zu, beklagten manche nun mangelnde Führung. Bei Beschlüssen der großen Koalition zur Familienförderung oder der Föderalismusreform wackelte der Parteichef. Auch Platzecks Verhältnis zum Vizekanzler Müntefering blieb sachlich, eher distanziert, in der Diskussion um die Rente mit 67 rumpelte es zwischen beiden. Müntefering handelte, Platzeck zögerte. Müntefering wollte regieren, Platzeck wollte es allen recht machen.

Der SPD-Chef konnte sich nicht entscheiden zwischen der Rolle als Versöhner einer geschlauchten Partei und der Rolle als mutiger Reformer. In gewisser Weise war sein Führungsstil als SPD-Vorsitzender dem von Angela Merkel als Kanzlerin erstaunlich ähnlich: abwartend, fast zaudernd, Festlegungen erst, wenn es sich einfach nicht mehr vermeiden lässt. Platzeck versteht sich gut mit Merkel. Aber er hat nicht ihr dickes Fell.

Statt dessen überging er alle Probleme mit einer Fröhlichkeit, die unerschütterlich wirkte. Er wehrte sich dagegen, von der Ungeduld seiner Umgebung überrollt zu werden. Er tat so, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Auf eine entsprechende Frage antwortete er noch vor wenigen Tagen: "Sie vergessen immer, dass ich jetzt auch schon 15 Jahre in diesem Geschäft bin." Und auch das ist ein tragischer Zug am Ende der Amtszeit Platzecks als SPD-Vorsitzender, dass seine größten Stärken, seine Freundlichkeit, seine Ehrlichkeit sich nun als aufgesetzt erweisen, nicht als falsch, aber doch als übertrieben. Jetzt, da er zugegeben hat, unter welchem Druck er stand, muss man konstatieren, dass Matthias Platzeck seine Umgebung getäuscht hat. Und sich selbst wohl am meisten.

© SZ vom 11.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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