Massenverhaftungen in der Türkei:Wenn der Bürger zum Terrorist wird

Die Türkei hat eine Tradition darin, politische Opposition als Terrorismus abzustempeln, gerade wenn es um die Kurdenfrage geht. Derzeit lässt die Justiz Tausende kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Professoren verhaften. Der Vorwurf: "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung".

Kai Strittmatter, Istanbul

Die Türkei ist ein Land der Widersprüche. Niemand wüsste das besser als der Verleger Ragip Zarakoglu. Vergangene Woche beschrieb er in einem Brief seine Rührung über einen weiteren Tabubruch von Premier Tayyip Erdogan. Der hatte sich vor zwei Wochen - völlig überraschend - im Namen des Staates bei den alevitischen Kurden der Stadt Dersim für ein Massaker entschuldigt, bei dem türkische Soldaten 1938 mehr als 13.000 von ihnen abgeschlachtet hatten.

Das Massaker war bis dahin eines der größten Tabus der Geschichte der Republik. "Die Tränen standen mir in den Augen, als ich das Wort 'Entschuldigung' hörte", schrieb Zarakoglu, 63, als unbestechlicher Intellektueller eine Institution der türkischen Linken, der sich sein Leben lang für die Sache verfolgter Minderheiten eingesetzt hat.

Prominente Opfer

Dass Zarakoglu seine Ergriffenheit über Erdogans Entschuldigung nicht anders mitzuteilen wusste als in einem Brief, hat allerdings einen Grund: Er sitzt seit mehr als einem Monat im Gefängnis. Er ist eines der prominentesten Opfer einer anhaltenden Welle von Massenverhaftungen, die Bürgerrechtler auf die Barrikaden treibt, die Premier Erdogan aber mit Inbrunst verteidigt.

Die Justiz sagt, sie jage Terroristen. Sie fängt aber Tausende zivile kurdische Politiker, Aktivisten, Journalisten und Rechtsanwälte - und seit neuestem auch türkische Akademiker und Verleger, die sich für die kurdische Sache einsetzen.

Ende Oktober erwischte es als bislang prominentestes Opfer den Verleger Zarakoglu und Büsra Ersanli, eine Professorin für Internationale Politik. Beide hatten Vorträge gehalten an der Politischen Akademie der linken Kurdenpartei BDP, einer legalen Partei mit 36 Sitzen im Parlament in Ankara. Beiden wird wegen dieser Vorträge die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vorgeworfen. Ein Vorwurf, der den Inhaftierten selbst am unbegreiflichsten erscheint. "Alles hier entwickelt sich zunehmend kafkaesk", schreibt Zarakoglu.

Von Reformstimmung spricht keiner mehr

Die Verhaftung der beiden Istanbuler Bürgerrechtler hat viele alarmiert. "Wir fühlen uns an einem Wendepunkt", sagt die Autorin Necmiye Alpay. "Wir hatten einmal große Hoffnungen. Nun machen wir uns große Sorgen. Die Frage ist: Wohin geht die Türkei? Wohin will die AKP?"

Die Partei von Premier Erdogan also, die einige Jahre lang engagiert Reformen angestoßen und Freiheiten vorangetrieben hat, die der unterdrückten Minderheit kurdischsprachige Fernsehsender erlaubte. Um die Kurdenfrage zu lösen, trat die Regierung gar in Geheimverhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem Führer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, der seit 1999 auf der Insel Imrali in Einzelhaft sitzt. Die Reformstimmung aber ist verflogen, Ankara fährt im Moment eine harte Linie.

Sonderkommandos und Massenverhaftungen

Diese Woche erst ließ die Regierung durchsickern, sie plane den Einsatz von Sonderkommandos, deren Auftrag die Ermordung von 300 führenden PKK-Leuten sei. Unmittelbarer Auslöser der jüngsten Verhärtung war die PKK selbst, die mit blutigen Angriffen auf türkische Soldaten im Juli jede Hoffnung auf weitere Friedensgespräche sabotierte.

Dass die Regierung sich aber nun vorwerfen lassen muss, sie kriminalisiere Tausende friedliche Bürger und zeige zunehmend autoritäre Züge, liegt an jenem Feldzug von Polizei und Justiz, der seit April 2009 läuft und der offiziell die "Union der Gemeinschaften Kurdistan", kurz KCK, zum Ziel hat. Die KCK ist eine von der PKK geschaffene Untergrundorganisation. Ankara behauptet, die KCK sei dabei, einen Staat im Staate aufzubauen.

Erstaunlich ist das Ausmaß der Verhaftungen: Allein in den vergangenen sieben Monaten wurden mehr als 4500 angebliche KCK-Mitglieder festgenommen, gegen mehr als 1500 wurden anschließend Haftbefehle ausgestellt. Fast alle sind sie Mitglieder der Kurdenpartei BDP, unter ihnen Gemeinderäte und die Bürgermeister von einem halben Dutzend großen kurdischen Städten.

Vielerorts ist die BDP mittlerweile funktionsunfähig. Dass die BDP Verbindungen zur PKK unterhält, ist unstrittig - ebenso aber, dass ihre Funktionäre bewusst den Weg ziviler Politik gewählt haben. "Wenn du alle zivilen Akteure der kurdischen Politik verhaftest, mit wem willst du dann eigentlich noch einen Dialog führen?", fragt der Autor Murat Celikkan, Mitglied des "Friedensrates", eines Zusammenschlusses liberaler und linker türkischer Aktivisten, dem auch die verhaftete Professorin Büsra Ersanli angehörte.

"Keiner der Verhafteten war ein bewaffneter Terrorist. Ziel ist es, die BDP auszuschalten", meint auch der Kolumnist Cengiz Candar in der liberalen Radikal: "Das Schlimmste ist, dass diese Operation die kurdische Jugend letztlich dazu treibt, in die Berge zu gehen und sich tatsächlich der PKK anzuschließen."

Oppositionelle werden zu Terroristen erklärt

Die Türkei hat eine Tradition darin, friedliche Bürger zu Terroristen zu stempeln, gerade wenn es um die Kurdenfrage geht. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat dieser gefährlichen Tendenz des türkischen Staates im vergangenen Jahr einen eigenen Bericht gewidmet. Türkische Gerichte, heißt es darin, seien geübt darin, "politische Opposition zu Terrorismus zu erklären". Einfache Demonstranten werden regelmäßig verurteilt "als wären sie bewaffnete Militante".

Tatsächlich gibt es kein Land dieser Erde, in dem es so leicht ist, zum Terroristen erklärt zu werden. Die Nachrichtenagentur AP fand das heraus, als sie zum 10. Jahrestag der Anschläge von New York am 11. September 2001 Statistiken aus 66 Ländern zusammentrug. AP wollte wissen, wie viele Menschen in diesem Jahrzehnt als Terroristen verurteilt worden waren. Die Rechercheure kamen auf 35.117. Für die meisten Verurteilungen - 12 897 - war die Türkei verantwortlich. Erst mit weitem Abstand (7000) folgte China.

"Wer die Regierung kritisiert, wird mit Gefängnis bestraft"

Schuld daran sind Antiterror-Gesetze, die einem Willkürregime Tür und Tor öffnen. Die sechsfache Mutter Vesile Tadik aus Siirt zum Beispiel wurde als "Terroristin" zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil sie bei einer Demonstration 2009 ein Banner hochgehalten hatte, auf dem stand "Der Weg zum Frieden führt durch Öcalan", eine Ansicht, die ironischerweise die Regierung zu jenem Zeitpunkt teilte, führte sie doch Geheimgespräche mit dem inhaftierten PKK-Chef.

Die bekannte Reporterin Nese Düzel von der Istanbuler Zeitung Taraf steht seit 2010 vor Gericht, weil sie zwei Ex-PKK-Führer interviewt hatte. Die Anklage: "Propaganda für eine Terrororganisation".

Kein Aufschrei der türkischen Presse

Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich in dem absurd weiten Netz des Terrorvorwurfs so offensichtlich integre Figuren wie der Verleger Zarakoglu und die Politologin Ersanli verfingen. Für die kurdischen Aktivisten war die Verhaftung der beiden wohl eher ein Vorteil: Der Aufschrei, der durch Teile der türkischen Presse ging, war zuvor ausgeblieben.

Viele Liberale, die den Kurs des konservativen Reformers Erdogan bislang mit kritischer Sympathie begleiteten, sind bestürzt. "Nach einigen Jahren relativer Freiheit kommen die letzten Verhaftungen wie ein Schock", sagt Kerem Öktem, Autor des Türkei-Buches "Angry Nation", der an der Universität Oxford zur Kurdenfrage forscht. "Damit begeht die Justiz und mit ihr die Regierung einen Tabubruch. Sie signalisiert klar: Wer die Regierung aus einer sozialistischen, kurdischen oder humanistischen Perspektive kritisiert, der wird mit Gefängnis bestraft."

Beweise für terroristische Aktivitäten der prominenten Gefangenen hat die Staatsanwaltschaft bislang keine vorgelegt. Stattdessen empfahl Innenminister Idris Naim Sahin den Kritikern allen Ernstes, sie sollten doch einmal die Jugend von Professorin Büsra Ersanli unter die Lupe nehmen, ihre "kommunistischen Aktivitäten" vor 1980 zum Beispiel.

Überhaupt verstehe er die Aufregung nicht, sagte der Minister im Parlament. Frau Ersanli sei schließlich "nur eine von Tausenden Professoren" in der Türkei. "Wenn wir nun alle Professoren verhaften würden, dann wäre der Argwohn wohl gerechtfertigt. Aber eine von Tausenden, die darf man doch wohl verhaften."

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