Massenprozess in Argentinien:Verschleppung, Folter und Mord in 789 Fällen

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Der bereits zu lebenslanger Haft verurteilte Alfredo Astiz muss sich wegen weiterer Verbrechen vor Gericht vor verantworten. (Foto: REUTERS)

In Argentinien hat der bislang größte Prozess wegen Verbrechen der Militärdiktatur begonnen. Unter den 68 Angeklagten sind bereits verurteilte Mörder und der ehemalige Finanzminister des Landes. Erstmals stehen auch Piloten der berüchtigten Todesflüge vor Gericht.

Menschen wurden in geheimen Lagern gefoltert oder noch lebendig aus Flugzeugen ins Meer geworfen, Kinder von Regimegegnern an Regierungsanhänger gegeben: Die Liste der Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur ist lang - und noch lange nicht vollständig aufgearbeitet.

Menschenrechtsaktivisten fordern bereits seit Jahrzehnten, die Täter von damals konsequent vor Gericht zu stellen. In einem neuen Prozess zum "schmutzigen Krieg" müssen sich nun 68 Personen, die zwischen 1976 und 1983 in dem geheimen Gefängnis ESMA gefoltert und gemordet haben sollen, vor dem fünften Bundesgericht in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires verantworten.

Die Staatsanwaltschaft legt den Anklagten 789 Verbrechen zur Last. In dem Mammut-Prozess, der zunächst auf zwei Jahre angesetzt ist, werden vermutlich etwa 830 Zeugen vernommen. Es ist der bislang größte Prozess wegen Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur in Argentinien.

Im März 1976 hatte sich in Argentinien das Militär unter General Jorge Videla an die Macht geputscht und eine rechtsautoritäre Diktatur installiert. Die Junta regierte bis 1983. Politische Gegner wurden verfolgt und oft getötet.

Bis zu 30.000 Opfer der Diktatur

Die vom ersten demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsin 1983 eingesetzte "Nationalkommission zum Verschwinden von Personen" schätzte in ihrem Bericht die Zahl der Toten auf etwa 9.000 - allerdings unter Vorbehalt. Heute wird allgemein davon ausgegangen, dass der Diktatur ungefähr 30.000 Menschen zum Opfer fielen.

Die Gräueltaten zu beweisen, erweist sich weiterhin als schwierig: Wie viele südamerikanischen Diktaturen dieser Zeit ließ auch die argentinische Junta ihre Opfer häufig einfach verschwinden - "die Verschwundenen" wurden zum stehenden Begriff ("Desaparecidos"). Bis heute wissen viele Menschen nicht, was mit ihren Angehörigen passiert ist.

Die Spuren enden oft in einem der etwa 340 Foltergefängnissen, von denen die ehemalige Mechanikerschule der Marine, die ESMA, das größte und berüchtigtste war. Alleine dort wurden Schätzungen zufolge etwa 5.000 Menschen getötet. Nicht einmal 200 Gefangene sollen überlebt haben.

Von der ESMA aus sollen auch tausende Gefangene in Flugzeuge gebracht worden sein, aus denen sie während der so genannten "Todesflüge" betäubt, aber noch lebendig ins Meer oder den Fluss Rio de la Plata geworfen wurden. "Wie Ameisen" seien sie aus dem Flugzeug gefallen, soll einer der Piloten geschildert haben, berichtet die britische Zeitung The Independent.

Unter den 68 Angeklagten finden sich auch acht Piloten, denen vorgeworfen wird, an diesen Todesflügen beteiligt gewesen zu sein. Einer von ihnen war 2009 in Spanien festgenommen und ein Jahr später an Argentinien ausgeliefert worden - bis zu diesem Zeitpunkt flog er als Pilot bei einer niederländischen Fluggesellschaft. Es ist das erste Mal, dass sich in Argentinien ehemalige Militärs wegen der Todesflüge verantworten müssen.

Lediglich ein Pilot, Adolfo Scilingo, wurde bislang unter anderem wegen 30 Morden bei Todesflügen zu mehr als 1000 Jahren Haft verurteilt - allerdings in Spanien. Scilingo hatte sich der spanischen Justiz gestellt und zuvor einem argentinischen Journalisten erzählt, er wisse von 180 bis 200 Todesflügen in den Jahren 1977 und 1978. Immer mittwochs seien die Flüge mit zehn bis 15 betäubten Gefangenen gestartet. Er selber habe an zwei solcher Flügen teilgenommen. Später widerrief er seine Aussage, wurde aber dennoch verurteilt.

In Buenos Aires müssen sich nun auch die 2011 bereits zu lebenslanger Haft verurteilten früheren Junta-Offiziere Jorge Acosta, genannt "der Tiger", und Alfredo Astiz, der als "blonder Todesengel" bekannt wurde, sowie weitere der Angehörige einer Einheit namens "Task Force 332" verantworten. Die Organisation soll hauptverantwortlich für viele Morde gewesen sein.

Aufarbeitung seit 2005

Ihnen wird im neuen Prozess insbesondere die Entführung und Tötung der erst 17-jährigen Schwedin Dagmar Hagelin vorgeworfen. Sie wurde vermutlich mit einer Guerilla-Kämpferin verwechselt und in das Folterzentrum ESMA gebracht. Dort wurde sie wahrscheinlich hingerichtet, ihre Leiche wurde nie gefunden.

Fast alle Angeklagten gehörten während der Diktatur den Sicherheitskräften an, nur zwei sind Zivilisten: ein Anwalt sowie Juan Alemann, Staatssekretär für Finanzen der Junta. Ihm wird vorgeworfen, zugesehen zu haben, wie ein Mann gefoltert wurde, dem ein Anschlag auf ihn vorgeworfen worden war.

Erst seit 2005 verfolgt Argentinien wieder regelmäßig Verbrechen, die während der Militärdiktatur begangen wurden. Damals erklärte der Oberste Gerichtshof eine Parlamentsentscheidung von 2003 für zulässig, nach der zwei Amnestiegesetze aus den Jahren 1986 und 1987 annulliert wurden.

Diese Gesetze hatten den Angehörigen der Sicherheitskräfte weitgehend Straffreiheit verschafft. Mit dem Wegfall der Amnestieregelung begann eine neue Phase der juristischen Aufarbeitung der Diktatur. Seitdem wurde gegen 1943 Personen ermittelt, 302 Menschen sitzen in Haft, weitere 759 noch in Untersuchungshaft.

© Süddeutsche.de/dpa/AFP/epd/dapd/josc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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