Massenproteste in Russland:"Russland ohne Putin, Russland ohne Putin"

Aufbegehren gegen die "schmutzigste Duma-Wahl": Drei Wochen nach der Parlamentswahl protestieren Zehntausende Russen bei eisigen Temperaturen. Allein in Moskau erwarten die Organisatoren mehr als 100.000 Demonstranten.

Trotz Minusgraden und viel Schnee sind am Samstag wieder Zehntausende Menschen in Russland auf die Straße gegangen. Ihre Forderung drei Wochen nach der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Parlamentswahl: demokratische Neuwahlen.

In Moskau begannen die größten Anti-Regierungsproteste seit dem Machtantritt von Wladimir Putin vor mehr als zehn Jahren. Allein in der Hauptstadt waren 50.000 Menschen zugelassen. Nach Polizeiangaben versammelten sich 28.000 auf der weitläufigen Sacharow-Allee im Stadtzentrum, die Organisatoren sprachen von 100.000 Teilnehmern. Auf Transparenten waren die Worte "Russland wird frei sein" und "Diese Wahl ist eine Farce" zu lesen. Die Demonstranten riefen in Sprechchören "Russland ohne Putin" und "Neue Wahlen, neue Wahlen".

In einer Rede fragte der Schriftsteller Boris Akunin die Menschen rhetorisch, ob sie eine Rückkehr von Putin ins Präsidentenamt wollten. Die pfeifende Menge antwortete mit einem lauten Nein. Viele der Teilnehmer hielten Luftballons und schwenkten Fahnen. Die Stimmung war entspannt. Die Polizei hielt sich zurück. Auch in St. Petersburg, in Nowosibirsk und vielen anderen Städten gingen trotz eisiger Kälte Tausende Menschen auf die Straße.

Sie protestieren gegen die aus ihrer Sicht "schmutzigste Duma-Wahl" seit Ende der Sowjetunion vor 20 Jahren. Dabei kam es bei einzelnen nicht genehmigten Straßenprotesten zu Festnahmen, wie die Agentur Interfax meldete. Die zentrale Wahlleitung in Moskau hatte die Abstimmung vom 4. Dezember als die "beste aller Zeiten" bezeichnet. Dabei hatte zwar die von Regierungschef Wladimir Putin geführte Partei Geeintes Russland Einbußen verzeichnet. Sie bekam dennoch mit knapp 50 Prozent der Stimmen den Sieg zugesprochen. Seither kommt es im Riesenreich immer wieder zu Massenkundgebungen.

Die russische Führung hat angesichts der fortwährenden Proteste Zugeständnisse angekündigt. So will Kremlchef Dmitrij Medwedjew zur Förderung des politischen Wettbewerbs den Zugang von Andersdenkenden zu Wahlen erleichtern. Die Demonstranten fordern auch die Absetzung des Wahlleiters Wladimir Tschurow. Dies hatte in der Nacht zum Samstag erstmals auch der Menschenrechtsrat des Kreml empfohlen.

"Ich teile Ihre negativen Gefühle"

Erstmals hat nun auch ein enger Vertrauter Putins Verständnis für die jüngsten Proteste bekundet. Der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin erklärte am Samstag in einem offenen Brief an die Demonstranten: "Ich teile Ihre negativen Gefühle in Bezug auf die Ergebnisse der Parlamentswahl in unserem Land." Es müsse nun einen Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft geben, um einen friedlichen Wandel zu ermöglichen und einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern, warnte Kudrin in dem Schreiben, das die Zeitung Kommersant veröffentlichte. Zugleich bot sich Kudrin als Vermittler an, um einen Weg für Reformen auszuloten.

Medwedew hatte Kudrin im September nach einem öffentlich ausgetragenen Disput als Finanzminister entlassen. Kudrin hatte erklärt, er wolle nicht weiter sein Amt ausüben, sollte Medwedjew wie mit Putin vereinbart nach der Präsidentenwahl im März Regierungschef werden. Daraufhin forderte Medwedjew den Putin-Vertrauten vor laufender Kamera auf, seinen Hut zu nehmen. Kudrin erwiderte daraufhin mit einem Lächeln, er müsse dies zunächst mit Putin besprechen - eine beispiellose Demütigung für Medwedjew. Beobachter gehen davon aus, dass Kudrin nach Bekanntgabe des Rollentauschs von Putin und Medwedjew enttäuscht darüber war, dass nicht ihm der Posten des Ministerpräsidenten angeboten wurde.

Kudrin hat elf Jahre lang unter Putin als Finanzminister gearbeitet und gilt als einer der einflussreichsten Männer im politischen System Russlands. Nach der Entlassung Kudrins hatte Putin sich wiederholt hinter seinen Vertrauten gestellt und erklärt, der ehemalige Finanzminister sei weiterhin Teil seines Teams.

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