Massenmord:Tatort Klinik

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Die Würde des Menschen ist unantastbar. Um diese Würde geht es in Krankenhaus und Pflegeheim, um die Würde im Leben und im Sterben. Die Mordprozesse sind ein Beitrag zur Verteidigung dieser Würde.

Von Heribert Prantl

Wer einen Pflegeberuf ergreift, der tut dies nicht, um Reichtümer zu erwerben. Er tut dies, weil ihm Helfen, Heilen und Trösten Anliegen sind. Wer einen Pflegeberuf ergreift, der weiß, dass für kranke und alte Menschen Dinge wichtig sind, die in betriebswirtschaftlichen Programmen kaum eine Rolle spielen: Zeit, Geborgenheit und - ja, auch dies, mag es auch altmodisch klingen - Barmherzigkeit. Das ist die Berufung von Kranken- und Altenpflegern. Der Krankenpfleger Niels Högel hat das auf monströse Weise pervertiert. Nach vorliegenden Erkenntnissen hat er neunzig Menschen getötet, neunzig Patienten heimtückisch ermordet: Er hat in ungezählten Fällen den Herzstillstand seiner Patienten provoziert - und dann geschaut, dass es ihm gelingt, den herztoten Patienten zu reanimieren. Es ist dies mindestens neunzig Mal misslungen. Dieser Täter hat versucht, Gott zu spielen.

Ein Lebensretter setzt sein Leben ein zur Rettung anderer. Der Mörder Niels Högel hat mit dem Leben anderer gespielt, er hat ihnen das Leben genommen, um für sich selber das zu gewinnen, was er für sein Leben hielt und für seine Lebenslust brauchte - die Macht über den Tod. In der Welt des Medizinbetriebs, in dem Ärzte und Pflegekräfte dem Hilfebedürftigen so oft als Engel des Alltags erscheinen, wurde er zum gefallenen Engel, zum Luzifer. Aus dem Lebenserhalter wurde der Lebensvernichter, aus dem Krankenzimmer eine Todeszelle. Niels Högel hat, für sein Machtgefühl, die Besonderheit seiner Berufswelt ausgenutzt: In Krankenhäusern fällt der Tod nicht so auf, weil dort Operationen misslingen, weil dort Menschen ihren Krankheiten erliegen, ärztlicher Kunst zum Trotz. Der Tod ist dort Teil der Alltagsnormalität. Weil das so ist, gibt es kaum einen idealeren Tatort für kaschierte Tötungen als Krankenhäuser und Pflegeheime.

Es geht um die Verteidigung der Menschenwürde im Krankenhaus

Der Fall des Massenmörders Högel liegt anders als die nicht ganz seltenen Fälle, in denen die Tötenden behaupten, sie hätten nur Sterbehilfe geleistet, also aus Mitleid getötet - weil sie das Leiden nicht mehr hätten ansehen können. Kann man, darf man aus Mitleid töten? Selbstverständlich nicht. Im Übrigen: Haben diese Totmacher wirklich Mitleid? Mit-leiden bedeutet, das Leiden eines anderen Menschen mitzutragen, nicht, es zu beenden. Ein tötender Pfleger handelt nicht aus Mit-Leid, sondern weil er dem Leiden des anderen nicht gewachsen ist. Christine Malèvre, die französische Krankenschwester, die ihre Patienten ermordet hat, gestand es so: Man erleichtere sein eigenes Leiden, "indem man das des anderen erleichtert"; man erlöse sich selbst, indem man dem anderen über die Grenze helfe. Der Pfleger Högel hat auch diese Ausrede nicht; er hat schlicht Jo-Jo gespielt mit dem Leben seiner Patienten.

Im ersten Prozess gegen ihn hat der Gutachter erklärt, wie die Maschinenmedizin und die Anonymität der Intensivstation den Mann verändert habe - wie er nach Anerkennung gegiert, sie nicht bekommen und dann mit seinen Reanimationen erzwungen habe. Es wäre gleichwohl falsch, in den Missständen des Medizinbetriebs eilends den Auslöser und Schuldigen für Mordtaten zu finden. Man machte damit den Täter zum Opfer. Opfer sind die von ihm getöteten Patienten; und Opfer sind die Kranken- und Altenpfleger, die aufopferungsvolle Arbeit leisten und gegen die nun ihr mörderischer Kollege das Gift des Misstrauens gespritzt hat.

Was tun? Die Kontrollen in den Kliniken müssen besser werden. Seltsamen Medikamentenbestellungen muss nachgegangen werden. Dem aktiven Nicht-wissen-Wollen muss Einhalt geboten werden. Und es ist skandalös, wie lax Todesfeststellung und Leichenschau häufig in Krankenhäusern gehandhabt wird - so als sei derjenige, der im Krankenhaus stirbt, ohnehin ein Gezeichneter gewesen, ein Mensch mit reduzierter Würde.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Krankenhäuser, Altenheime und Pflegeheime gehören zu den Orten, an denen sich der Eingangs- und Hauptsatz des Grundgesetzes ganz besonders bewähren muss: Wo sonst wird der Mensch so viel angetastet und abgetastet wie dort? Das Gesundheitswesen darf den kranken Menschen nicht zum Objekt machen. Das Krankenhaus darf keine Fabrik sein, in der das Wichtigste ist, dass dort Geld gemacht wird. Das Altenheim darf kein Ort sein, an dem Alte dafür bestraft werden, dass sie so alt geworden sind.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Um diese Würde geht es in Krankenhaus und Pflegeheim, um die Würde im Leben und im Sterben. Die Mordprozesse gegen Niels Högel und diejenigen, die ihm durch Unterlassen geholfen haben, sind ein Beitrag zur Verteidigung der Menschenwürde.

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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