Marokko:Der Sturm nach der Ruhe

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Arbeitslosigkeit ist einer der vielen Gründe für die Proteste in al-Hoceima. (Foto: Fadel Senna/AFP)

Die Proteste im Norden des Landes weiten sich auf mehrere Städte aus, nachdem führende Aktivisten inhaftiert wurden.

Von Moritz Baumstieger, München

Marokkos Regierung hatte die Wahl zwischen schlecht und schlechter: Unternahm sie nichts gegen die Proteste, die da seit Oktober im Norden des Landes schwelten, drohten die noch größer und heftiger zu werden. Schickte sie die Polizei, um die Demonstrationen zu beenden, drohten Eskalation und Gewalt. In diesem Zwiespalt wählte der Staat die Option "noch schlechter" - und ließ neben einigen anderen Aktivisten auch den Anführer der "Hirat al-Schaabi" am Montag verhaften, der protestierenden "Volksbewegung".

Das Ergebnis: Seither gehen nicht nur in der bitterarmen Rif-Region im Norden Tausende Menschen auf die Straße, aus der Nasser Zefzafi stammt, der festgenommene Anführer der Proteste. Auch in den Städten Casablanca und Rabat versammeln sich nun Bürger auf den Straßen, nach zehn Uhr abends, wenn sie das Fasten des Ramadans gebrochen haben. "Verhaftet uns alle", rufen sie, "wir sind alle Zefzafi, wir sind alle Aktivisten." Spätestens jetzt dürften die Proteste, die in der marokkanischen Presse bisher nur wenig Beachtung fanden, nicht mehr totzuschweigen sein.

Während andere arabische Länder im Chaos versanken, blieb es in Marokko vergleichsweise ruhig

Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Demonstranten zu besänftigen, könnte dem Königreich Marokko nun drohen, was manche Staaten in der Region schon die vergangenen sechs Jahren durchlebten. Während andere arabische Länder von Massenprotesten erschüttert wurden und im Chaos versanken, war es im Königreich Marokko vergleichsweise ruhig geblieben. Der Monarch Mohammad VI. versuchte sich an einer vorsichtigen Öffnung, gab zumindest einen Teil seiner Macht an das Parlament ab. Seit 2011 regiert er das Land gemeinsam mit Premierministern der moderat-islamistischen Partei PJD, gibt bei Entscheidungen jedoch die Richtung vor und ist weiter Oberbefehlshaber der Armee.

Eine wirkliche Verbesserung ihrer Situation verspüren viele Bürger aber kaum. Die politischen Reformen konnten keine wirkliche Begeisterung entfachen, bei der letzten Parlamentswahl im Oktober 2016 rafften sich gerade mal 43 Prozent zur Abgabe ihrer Stimmen auf. Auch wenn viele Marokkaner den Monarchen selbst von allen Verfehlungen freisprechen, gilt der "Mahkzen", der königliche Hof, weiter als Hort der Korruption und Willkür. Und die ökonomische Lage ist für viele nach wie vor katastrophal, gerade in ländlichen Gebieten. Wenn Chaima Zoui, eine junge Aktivistin aus der Rif-Region, die Forderungen der "Volksbewegung" aufzählt, braucht sie dafür eine ganze Weile: Weil es weder eine Autobahn- noch eine Zuganbindung gibt, können Fischer und Bauern ihre Güter kaum verkaufen. Es fehlt an verarbeitenden Fabriken, Schulen, Ausbildungseinrichtungen, Universitäten, Kulturzentren. "Wir haben nicht mal ein vernünftiges Krankenhaus", regt sich Chaima Zoui auf. "Wenn du Krebs hast, musst du zur Behandlung fünf Stunden nach Fès fahren."

Die Option, die Unzufriedenheit der Bürger in der Rif-Region dadurch zu beenden, indem man die Forderungen der Bürger wirklich ernst nimmt, hat die Regierung in der Hauptstadt Rabat bisher anscheinend nicht sehr ernsthaft erwogen. Seit 1958 hat die nahe an der Grenze zum verfeindeten Algerien gelegene Region den Status einer militärischen Zone, was Polizei und Armee weitreichende Rechte einräumt. So wird die Staatsmacht hier als Feind wahrgenommen, der Bauern ins Gefängnis wirft, die sich ihr Einkommen durch kleinflächigen Cannabis-Anbau aufbessern - während sich korrupte Großspekulanten ungestraft öffentliches Land aneignen.

Die Bewohner der Gegend, hauptsächlich Amazigh, also Berber, haben sich auch in der Vergangenheit schon oft gegen Rabat zur Wehr gesetzt. Die aktuelle Protestwelle begann Ende Oktober, als die Polizei in der Provinzhauptstadt al-Hoceima die Ware eines kleinen Fischhändlers konfiszierte, angeblich, weil der während der geltenden Schonzeit Schwertfisch verkaufte. Mouhsin Fikri, 31 Jahre alt, sprang in das Müllauto, um den entsorgten Fisch zu retten - und wurde von der Müllpresse zerquetscht. Die Unzufriedenen von al-Hoceima hatten nun einen Märtyrer, dessen Schicksal an das von Mohamed Bouazizi erinnerte, dem tunesischen Gemüsehändler, der sich wegen der Schikanen der Behörden selbst anzündete und damit Proteste und den Beginn der "Arabellion" auslöste.

Der Tod von Fikri habe auch Nasser Zefazfi politisiert, erzählt Aktivistin Zoui. Der 39-jährige Arbeitslose, der sich bisher als Kellner und Küchenhilfe durchschlug, organisierte fortan Demonstrationen und Sit-ins in al-Hoceima und sorgte laut Zoui auch dafür, dass sie friedlich blieben. Eine Unabhängigkeit der Rif-Region fordere niemand, sagt sie. Doch da die Staatsmacht nie wirklich einen Dialog gesucht, sondern im Gegenteil Aktivisten verhaftet habe, stellten Teile der Bewegung inzwischen die Frage, ob die Monarchie und der König die richtige Wahl für Marokko seien.

Als nun ein Imam in seiner Freitagspredigt zum Ramadan-Auftakt Zefzafi persönlich angriff, ihn als Separatisten bezeichnete und die Proteste als Aufstand gegen Gott brandmarkte, stand der anwesende Protestführer auf. "Ist das eine Moschee für Gott oder eine Anbetungsstätte der Zentralmacht?", rief er. Der Hof in Rabat erwirkte einen Haftbefehl wegen Störung des Freitagsgebets - und heizte die Proteste so erst richtig an.

© SZ vom 01.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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