Marokko: Blutbad in Marrakesch:Anschlag auf die freie Debatte

"Nichts Schlimmeres hätte uns passieren können": Der Terrorakt von Marrakesch trifft auch die kritischen Geister in Marokko. Sie fürchten, dass die konservativen Kreise, die Vertreter einer rücksichtslosen Unterdrückung, die Katastrophe nach Kräften ausnützen.

Rudolph Chimelli

Die Toten und Verletzten der Bombe von Marrakesch sind nicht die einzigen Opfer dieser Tat. Direkt betroffen ist der Tourismus, dem Marokko etwa sechs Milliarden Euro pro Jahr und lebenswichtige Arbeitsplätze verdankt. Gefährdet ist vor allem die freiere Debatte über die Grundprobleme des Königreichs, die mit dem Arabischen Frühling auch hier einsetzte. "Nichts Schlimmeres hätte uns passieren können", sagt Karim Boukhari, der Chef des Wochenmagazins Tel Quel, der freimütigsten Publikation des Landes. "Die konservativen Kreise, die Falken, die Vertreter einer rücksichtslosen Unterdrückung, von denen es bei uns genug gibt, werden diese Katastrophe nach Kräften ausnützen."

Explosion in Marrakech

Die Terrasse des zerstörten Cafés in Marrakesch: Die Toten und Verletzten der Bombe sind nicht die einzigen Opfer dieser Tat.

(Foto: dpa)

Sie werden argumentieren, König Mohammed VI. sei vor zwei Wochen mit der Freilassung von 190 Extremisten schon zu weit gegangen. Etwa ein Zehntel der Islamismus-Verdächtigen, die nach den blutigen Selbstmordattentaten von Casablanca 2003 verhaftet oder verurteilt wurden, kam frei oder erhielt Strafverkürzung. Auf der anderen Seite sind Zehntausende, die zuletzt am Ostersonntag durch Marokkos Straßen zogen, mit der vom Monarchen versprochenen Verfassungsreform nicht zufrieden. Sie verlangen mehr und wollen am 1. Mai wieder demonstrieren. Der König setzte Anfang März eine Kommission ein, die bis Juni Vorschläge für eine Annäherung seiner Herrschaft an eine konstitutionelle Monarchie machen soll. Die Regierung soll gegenüber dem Parlament verantwortlich werden, nicht mehr von der Gnade des Königs abhängen, und auch für die Justiz ist Unabhängigkeit angesagt. Ein unabhängiges Organ oder gar eine gewählte verfassunggebende Versammlung ist die Kommission nicht. Ihre Mitglieder hat der König ausgesucht. Die Volks-Souveränität bleibt gebremst.

Die "Bewegung des 20. Februar", in der jugendliche Internet-Aktivisten, andere Unzufriedene und arbeitslose Universitätsabsolventen mit der nur tolerierten islamistischen Massenbewegung "Al-Adl wa al-Ihsane" (Gerechtigkeit und Wohlverhalten) verbündet sind, findet die Konzessionen "ungenügend". Die Bewegung will einen König, der nicht regiert, sondern nur herrscht. "Gegen die Verknüpfung von Geld mit Macht", "Mehr Gleichheit" oder "Es reicht!" stand auf Spruchbändern bei den jüngsten Kundgebungen.

Die Forderungen von Radikalen in der Bewegung gehen an die Substanz der Monarchie. Sie verlangen Untersuchungen gegen Fuad Himma, einen Schulkameraden des Königs und Chef einer palasttreuen Partei, sowie den früheren Sicherheitschef General Hamidou Laanigri. Menschenrechtsgruppen lasten ihnen die Verhaftung von Tausenden sowie Folter an. Die Sozialistische Partei PSU und die Menschenrechtsliga bleiben der Anhörung durch die Kommission fern.

Vielen Millionen Marokkanern in den Elendsvierteln der großen Städte oder im verarmten Hinterland sagt das Wort "Verfassungsreform" nichts. Wirksame Sozialreformen sind nicht in Sicht. Marokko bleibt neben Mauretanien das ärmste Maghreb-Land. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, und der König ist der Reichste der Reichen. Sein persönliches Vermögen wird vom amerikanischen Wirtschafts-Dienst Forbes auf 2,5 Milliarden Dollar geschätzt, fünf Mal mehr als bei seiner Thronbesteigung vor zehn Jahren. Über die Holding-Gesellschaft Ona kontrolliert er ferner Phosphatbergwerke, Banken, Versicherungen, Handelsketten und Baufirmen.

Das Pro-Kopf-Einkommen Marokkos liegt unter dem von Tunesien oder Algerien. Die Arbeitslosigkeit ist mindestens so groß wie in den Nachbarländern. Doch das Königreich hat kein Erdöl und kein Gas, womit sich Trostpflaster für die Armut finanzieren ließe. Zündstoff gibt es genug. Der Anschlag kann entweder die Radikalisierung fördern, oder die Angst vor Unsicherheit - und damit wohl den Status quo.

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