Mark Rutte:Die Freude des Dauerlächlers

Der Regierungschef verliert deutlich und ist trotzdem erleichtert, Geert Wilders gewinnt hinzu - und kann sich dennoch nicht als Sieger fühlen. Nun läuft es auf eine Vier-Parteien-Koalition unter Rutte hinaus.

Von Thomas Kirchner

Der Abend beginnt mit einem Malheur. Als um 21 Uhr im Fernsehen das Ergebnis der ersten Nachwahlbefragung verkündet wird, versagt die Technik für die Grafik. Wort und Bild passen nicht zusammen, Verwirrung auf den Parteienpartys in Den Haag und Amsterdam, keiner weiß, ob er lachen oder weinen soll. Eine halbe Minute später erst kapieren alle, was in dieser Deutlichkeit nicht zu erwarten war: Die Rechtsliberalen haben einen großen Vorsprung, Ministerpräsident Mark Rutte darf weiter regieren, Geert Wilders ist ausgebremst. Seine Freiheitspartei (PVV) hatte das ganze vergangene Jahr über in den Umfragen vorn gelegen, bis zu 35 der 150 Parlamentssitze waren ihr vorhergesagt worden. Nun sind es 20, fünf mehr als bisher. Das bedeutet Platz zwei, ein sehr gutes Ergebnis zwar, aber eines, mit dem die niederländische Politik leben kann. 2010 hatte die PVV schon mal 24 Sitze, es geht also hoch, aber eben auch wieder runter für die Populisten. Stark ist Wilders in seiner südlichen Heimatprovinz Limburg, aber auch in Maastricht, Rotterdam, Den Haag und entlang der Grenze zu Deutschland.

Die PVV nimmt das mit maximaler Nüchternheit zur Kenntnis. Die Wahlparty ist ausgefallen, die Kosten für die Sicherheit seien zu hoch, heißt es. Die Partei lebt nur von Spenden, weil sie außer Wilders keine Mitglieder hat. Der Einzige, den Journalisten zunächst vors Mikrofon bekommen, ist der Fraktionschef der Provinz Drente, ein alter Mann, der dreimal wiederholt, dass er über das landesweite Ergebnis nichts sagen wolle. Wilders schaut derweil fern in seinem Büro, es liegt im Hochsicherheitstrakt des Haager Parlaments. Er twittert: "Wir waren die drittgrößte Partei in den Niederlanden. Jetzt sind wir die zweitgrößte Partei. Das nächste Mal werden wir Nummer eins sein!" Dann tritt er kurz vor die Journalisten, gratuliert Rutte artig und räumt ein: "Das sind nicht die 30 Sitze, auf die ich gehofft hatte." Und trotzdem freue er sich über den "Sieg".

Dutch Prime Minister Rutte of the VVD Liberal party and Dutch far-right politician Wilders of the PVV Party take part in a meeting at the Dutch Parliament after the general election in The Hague

Bester Laune: VVD-Parteichef und Ministerpräsident Mark Rutte (rechts) zelebriert am Donnerstag seinen Wahlsieg über den Rechtspopulisten Geert Wilders.

(Foto: Yves Herman/Reuters)

Der echte Sieger schwebt zu dieser Zeit auf einer Rolltreppe hinunter zu seinen Anhängern im Haager World Trade Center. "Was für ein Abend!", strahlt Mark Rutte, "wir haben Halt gesagt zum falschen Populismus." Und diesmal wirkt die Freude des berüchtigten Dauerlächlers nicht gespielt. Nur acht von 41 Sitzen eingebüßt, es hätte schlechter laufen können. Laut Experten hat Rutte am Wochenende noch zugelegt, seine klare Kante gegen die Türkei gefiel den Bürgern. Jetzt, sagt er, gelte es, den "Makroerfolg" in "Mikroerfolge" für jeden Bürger umzusetzen. "Wir sind Optimisten, wir wohnen in einem coolen Land."

Rutte vergisst nicht, die Partei der Arbeit zu erwähnen, seinen bisherigen Koalitionspartner, dem er "von Herzen ein anderes Ergebnis gewünscht" hätte. Die Sozialdemokraten haben unfassbare 29 von 38 Sitzen verloren. Es ist die Quittung für das Sparprogramm, das die Partei mitgetragen hat, und für einen schwer nachvollziehbaren Führungswechsel in letzter Minute. Aber auch für ein Orientierungsproblem: Die Arbeiter sind zu den Sozialisten abgewandert oder zu Wilders, die Einwanderer zur Einwandererpartei Denk, die Umweltfreunde zu Grün-Links, die Freidenker zu den Linksliberalen. Wer braucht noch Sozis? Spitzenkandidat Lodewijk Asscher will dennoch weitermachen. "Das ist ein bitterer Abend", sagt er gefasst. "Morgen beginnen wir mit dem Wiederaufbau." Seine Anhänger jubeln, es klingt trotzig, verzweifelt.

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*50+ = über 50-Jährige, PvdD = Tierschützer, SGP = Calvinisten, Denk = Migrantenpartei, FvD = EU-Gegner. SZ-Grafik; Quelle: NOS, Stand: 16.30 Uhr

Ein großes Comeback feiern hingegen die Christdemokraten, die sich unter Sybrand Buma mit einem dezidiert wertkonservativen Kurs genauso wieder wählbar gezeigt haben wie die linksliberalen Democraten66 (D66) unter dem ehrgeizigen Alexander Pechtold. Beide haben kräftig hinzugewonnen, und beide sind nach allgemeiner Auffassung die logischen und wahrscheinlichen Kandidaten für ein Regierungsbündnis mit Ruttes VVD. Zusammen kämen diese drei Parteien auf 71 Sitze. Die linke Christen-Union würde ihnen gewiss gern zur nötigen knappen Mehrheit von 76 Mandaten verhelfen, rechnerisch stabiler aber wäre eine Koalition mit Grün-Links, dem zweiten großen Sieger dieser Wahl, einer Partei, die vor vier Jahren noch als nahezu ausgestorben galt. Dieses Bündnis wäre auch in der weniger wichtigen Ersten Parlamentskammer in der Überzahl.

Weil die Optionen vergleichsweise übersichtlich auf dem Tisch liegen, ist diesmal mit einer kürzeren Verhandlungsdauer zu rechnen, sicher länger als 2012, als der Regierungsvertrag mit den Sozialdemokraten schon nach 54 Tagen besprochen war, aber weniger lang als die 208 Tage, die 1977 benötigt wurden. Bis 2012 spielte die Monarchie noch eine größere Rolle, da sie jenen verdienten Alt-Politiker auswählen durfte, der das Management der Koalitionssuche übernimmt. Den ernennt das Parlament inzwischen selbst; dessen Präsidentin will zum ersten Mal überhaupt eine Frau damit beauftragen. König Willem-Alexander bleibt nur noch, die neuen Minister zu vereidigen.

Abermals größer geworden ist die Zersplitterung des Parteiensystems. Die Verluste der größeren Fraktionen flossen zum Teil in Gewinne der Seniorenpartei 50plus und der vehement kapitalismuskritischen Partei für die Tiere. Statt elf sitzen nun 13 Parteien in der Tweede Kamer. Neu hinzu kommen die erwähnte Einwandererpartei Denk, deren Chef Tunahan Kuzu seinem Erzfeind Wilders in Demagogie nicht nachsteht, sowie das Forum für Demokratie. Dessen Gründer Thierry Baudet, ein Nationalist, EU-Gegner, Anhänger der direkten Demokratie und Provokateur, wird im Parlament Aufsehen erregen.

Die Niederländer selbst sehen im immer größer werdenden Parteienangebot, das durch die fehlende Prozenthürde verstärkt wird, allerdings weniger ein Problem als einen Ausweis von Vitalität. Überhaupt war dieser Wahltag, da scheinen sich alle einig zu sein, ein "Fest der Demokratie", wie Rutte es nennt. Begeistert registrierten Journalisten den Andrang an den Wahllokalen, der in eine eindrucksvolle Beteiligung von etwa 80 Prozent mündet (vor fünf Jahren waren es noch 74,6 Prozent), das intensive Engagement gerade auch junger Menschen, das ungewohnt hohe Interesse ausländischer Kollegen. Websites zur Wählerberatung werden ebenso belobigt wie die Umfrage-Institute, die bewiesen haben, dass man auch das angeblich unberechenbare Ergebnis der Populisten vernünftig vorhersagen kann. Sogar dem roten Buntstift, der in den Wahlkabinen aus Angst vor Hackern flächendeckend zum Einsatz kam, wird in Wort und Bild eine gewisse demokratische Erotik beigemessen.

Scharfe Angriffe aus der Türkei

Für den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu ist die Sache klar: Alle Niederländer sind Feinde der Türkei, daran ändert auch der Wahlausgang nichts. "Zwischen dem Faschisten Wilders und den Sozialdemokraten gibt es keinen Unterschied. Alle haben dieselben Absichten", zitiert ihn Hürriyet. "Sie werden Europa an den Abgrund bringen. Bald wird dort ein Krieg der Religionen ausbrechen. Wenn die Europäer nur ein Gramm Schamgefühl hätten, könnten sie sich nicht mehr selbst ins Gesicht sehen."

Eine "kalte Dusche der Türkei für diejenigen in Holland, die sich einbilden, triumphiert zu haben", nennt das die regierungstreue Zeitung Sabah. Dem Sender BBC Türk zufolge sind 34 Prozent der niederländischen Wähler der Meinung, dass Mark Ruttes Umgang mit der Türkei seiner Partei zu mehr Stimmen verhalf.

Die AKP-nahen Medien springen wie gewohnt auf den Zug der Regierung auf, die seit Monaten am Feindbild Europa bastelt. Aus der Mitteilung der niederländischen Verteidigungsministerin Jeanine Hennis-Plasschaert, wonach man die Spannungen mit der Türkei abbauen wolle, macht Sabah: "Holland gibt nach." Die beiden türkeistämmigen holländischen Politiker Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk, Gründer der Migranten-Partei Denk und 2014 aus der Arbeiterpartei ausgeschlossen, werden als "die ausgeschlossenen Türken" bezeichnet und in Siegerpose abgebildet. DENIZ AYKANAT

So gelingt es den Niederländern, sich an der schieren Normalität dieses denkwürdigen Wahltages zu berauschen. Man spürt, sie wollen sagen: So geht das, Europa.

Es könnte allerdings sein, dass dieses Gefühl nicht lange anhält. Auch in Europa nicht. Denn besiegt ist der Nationalpopulismus keineswegs.

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