Maidan in Kiew:Tödliche Schüsse aus verschiedenen Richtungen

Maidan in Kiew: Im Februar wurden auf dem Maidan-Platz etwa einhundert Demonstranten erschossen.

Im Februar wurden auf dem Maidan-Platz etwa einhundert Demonstranten erschossen.

(Foto: Sandro Maddalena/AFP)

Wer schoss im Februar auf die Maidan-Demonstranten? Kiew zieht demonstrativ Geheimdienstler der Vorgänger-Regierung zur Verantwortung. Doch Recherchen zeigen, dass einige Schüsse aus anderen Richtungen kamen.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Damals, im Februar, war es der Schock für die Maidan-Aktivisten schlechthin, ein Trauma für Millionen, ein Wendepunkt des Aufstandes: Hundert Tote, erschossen auf dem Maidan zwischen dem 18. und dem 20. Februar, die das Ende der Präsidentschaft von Viktor Janukowitsch einleiteten. Als "Himmlische Hundertschaft" gingen die Toten später in die Legendenschreibung des proeuropäischen Aufstandes ein.

Trauma für Millionen, Wendepunkt des Aufstandes

Nun hat der Chef des ukrainischen Geheimdienstes, Walentyn Nalywajtschenko, in einem Fernsehinterview mitgeteilt, dass vier hohe Offiziere des ukrainischen Geheimdienstes SBU festgenommen worden seien. Man habe die Chefs einiger SBU-Abteilungen ausgemacht, welche "die Erschießungen geplant" und die entscheidenden Befehle geben hätten. "Am heutigen Tag", so Nalywajtschenko, "kennen wir vier Verräter, Offiziere der höchsten Ränge." Andere seien geflohen und zur Fahndung ausgeschrieben.

Gegen ein Dutzend Mitglieder der Berkut, einer dem Innenministerium unterstehenden Sondereinheit der Polizei, hatte die Generalstaatsanwaltschaft schon im März Ermittlungen eingeleitet. Einigen der kurz darauf Verhafteten konnte ihre Beteiligung nicht nachgewiesen werden, andere, die als Täter gesucht werden, setzten sich auf die Krim ab. Mittlerweile ist die Berkut aufgelöst. Als unbestritten gilt aber, dass Mitglieder der "Schwarzen Kompanie" und der "Einheit Alpha", die zur Berkut gehören, damals auf unbewaffnete Zivilisten auf dem besetzten Platz im Stadtzentrum sowie auf Mitglieder der "Maidan-Selbstverteidigung" geschossen haben. Nur: War das alles?

Am Ende lagen fast hundert Leichen auf dem Maidan

Heute ist der Maidan geräumt, die Fotos, die Blumen, die Kinderbilder, die an die Himmlischen Hundert erinnerten, sind weggeräumt. Sie sollen in ein eigens dafür zu schaffendes Museum gebracht werden. Und doch gibt es wohl kaum einen Ukrainer, der diese Bilder vor seinem inneren Auge nicht abrufen kann: die Scharfschützen auf den Dächern rund um den Unabhängigkeitsplatz in der Stadtmitte, Schüsse, deren genaue Herkunft nicht zu orten war. Leichen, aufgereiht nebeneinander, das Blut sickerte aus den Köpfen; am Ende waren es fast hundert. Die letzten Opfer starben Tage später in Krankenhäusern. Vermummte und bewaffnete Mitglieder der Maidan-Milizen, die, hinter Schilden und Holzplatten Schutz suchend, gegen die Berkut-Polizei auf der Institutska-Straße vorrückten. Ab und zu wurde einer getroffen, von seinen Kameraden hinter Bäume gezogen, über die Straße geschleift, manche, die nicht mehr zu retten waren, blieben bis zum Abend liegen. Und immer wieder Schüsse, einige durchschlugen die Fenster des Hotels Ukraina, dessen Foyer sich in Windeseile in ein Notlazarett verwandelte. Auf dem Maidan Priester, die weinende Menschen umarmten und Sterbenden die letzte Ölung gaben. Flüchtende, die sich panisch in Sicherheit brachten, freiwillige Helfer, die sich notdürftig rote Kreuze auf die Kleidung gemalt hatten und in verzweifelter Hast Verletzte auf selbst gebastelten Tragen zu herbeigeeilten Ärzten trugen.

Hatten Aktivisten auf die eigenen Leute geschossen?

Und während der ganzen schrecklichen Geschehnisse einte die Aufständischen vom Maidan die empörende Gewissheit: Es sind die Schergen von Viktor Janukowitsch, der auf sein Volk schießen lässt. Tage später kamen erste Zweifel auf. Hatten da etwa auch einige Aktivisten des Maidan auf die eigenen Leute geschossen, waren Provokateure unterwegs gewesen, um die Wut zu entfachen und das Ende des verhassten Präsidenten zu beschleunigen?

Bis heute sind nicht alle Fragen ausgeräumt, auch wenn die Ermittlungen der ukrainischen Behörden dazu keine Erkenntnisse erbracht haben. Recherchen von ARD-Journalisten, die im April in Kiew waren, stützten indes die Version, dass nicht alle Schüsse von Berkut-Offizieren abgegeben worden seien. Sondern dass die Einschusslöcher einiger Kugeln darauf hinweisen könnten, dass auch aus der Richtung des Hotels Ukraina geschossen wurde. Ein Mitglied der Ermittlungskommission der Regierung hatte Reportern der ARD bestätigt, dass er die Einlassungen der Staatsanwaltschaft nicht in allen Punkten bestätigen könne. Letztgültig wurden diese Zweifel nie ausgeräumt. Für die russische Staatszeitung Rossijskaja Gaseta war ohnehin von Anfang an klar: "Der Maidan engagierte die Sniper."

Die Justiz nennt nun erstmals Namen und Verantwortliche

Die ukrainische Justiz wirft den Berkut-Männern Massenmord vor. Nun nennt der Geheimdienstchef auch einen ersten Namen und benennt Verantwortliche. Sein Vorgänger, Olexander Jakimenko, werde "in die Geschichtsbücher eingehen als ein Mann, der sein Amt und sein Volk betrogen hat und der auf die Seite der Russen gewechselt ist". Jakimenko, der nach der Fliegerschule in der Mongolei stationiert war und danach beim russischen Teil der ursprünglich noch gemeinsam verwalteten Schwarzmeerflotte diente, wurde erst spät im Leben ukrainischer Staatsbürger. Janukowitsch machte ihn zum Agentenchef. Derzeit wird Jakimenko in Russland vermutet.

Weitere Namen mutmaßlicher Verantwortlicher für die Maidan-Morde nannte Nalywajtschenko nicht. Die Ukrainska Prawda zitiert ihn aber mit der Aussage, dass die hochrangigen SBU-Offiziere, welche die Scharfschützen-Attacken geplant hätten, Hilfe von russischen Kollegen bekommen hätten. Die Kyiv Post kommentiert den Auftritt des Geheimdienstchefs am Montag mit Unverständnis: "Bis heute hat es keine Verurteilungen hochrangiger Verantwortlicher für das Blutbad auf dem Maidan gegeben."

Angebot an OSZE

Frankreich und Deutschland wollen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa alsbald ein konkretes Angebot für den Einsatz unbewaffneter Aufklärungsdrohnen in der Ostukraine unterbreiten. So wollen Paris und Berlin die OSZE in die Lage versetzen, den Waffenstillstand in der Ostukraine und die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu überwachen. Damit rückt auch ein Einsatz bewaffneter oder unbewaffneter Bundeswehrsoldaten näher. Mit dem Angebot ist freilich noch lange nicht entschieden, ob es wirklich zu dem Einsatz kommt. Kiew und die OSZE bestehen auf unbewaffnetem Bedienpersonal. Russland dürfte das ähnlich sehen. Paris hingegen lehnt einen Einsatz ohne Schutz für seine Soldaten ab. Und Berlin prüft die Frage noch. "Die Mühlen mahlen langsam", heißt es dazu in Berliner Regierungskreisen. Stefan Braun

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