Märkte und Politik in der Finanzkrise:Durch Versagen zur Macht

Versagen wird belohnt, Leistung wird bestraft: Erst mussten die Staaten die Finanzmärkte retten, jetzt herrschen die Märkte über die Staaten. Damit droht das Ende der Politik. Demokratie wird zum Formelkram.

Erhard Eppler

Leistung wird belohnt, Versagen bestraft, das ist der Lauf der Welt und überdies gerecht. Nirgendwo waltet diese Form der Gerechtigkeit unerbittlicher als auf den Märkten, also muss man ihnen möglichst viele Entscheidungen überlassen. Das jedenfalls haben wir die vergangenen Jahrzehnte täglich gehört.

Droht eine Neuauflage der Bankenkrise?

Düstere Wolken über der Skyline von Frankfurt am Main: Die offenkundige Dominanz der Finanzmärkte ist der Lohn für ihr katastrophales Versagen.

(Foto: dpa)

Was sich allerdings in den letzten drei Jahren im Verhältnis zwischen Finanzmärkten und Staaten abgespielt hat, ist das genaue Gegenteil: Die Finanzmärkte haben sich ausgerechnet durch ihr eigenes Versagen die Staaten unterworfen. Das Versagen wird belohnt, die Leistungen der Staaten in der Krise werden bestraft.

Als im Jahr 2008 die Banken einander keinen Kredit mehr geben wollten ohne Staatsgarantie - übrigens zögern sie auch heute wieder -, wurde alles lächerlich gemacht, was uns seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan gepredigt worden war: Dass die Märkte umso segensreicher wirken könnten, je weniger der Staat sich einmische. Die Märkte regulierten sich keineswegs selbst. Als unsere Banker eingestehen mussten, dass sie die Papiere, die sie mit Milliardensummen gekauft hatten, selbst nicht durchschaut und verstanden hatten, argwöhnten sie, dass die Kollegen ebenso viele davon - oder gar noch mehr! - in ihren Tresoren haben könnten. Und deshalb sollte es keinen Kredit mehr ohne Staatsgarantie geben.

Die Staaten mussten also die Banken retten, nicht umgekehrt. Und sie mussten die Rezession bekämpfen, die sich aus der Finanzkrise ergab. Beides kostete Geld, viel Geld. Aber beides gelang, unterschiedlich gut, aber es gelang. So gingen die Staaten, zumal die alten Industriestaaten, aus den Krisen mit mehr Prestige hervor, aber auch mit wesentlich höheren Schulden. Nicht, dass sie vorher keine gemacht hätten. Sie hatten immer wieder das Wachstum angekurbelt durch Schulden, und allzu viele Politiker hatten den marktradikalen Unsinn geglaubt, Steuersenkungen finanzierten sich selbst.

In lähmender Furcht

Aber dass die Zinsen für Staatsanleihen ins Unbezahlbare stiegen, dass europäische Staaten durch andere Europäer vor der Pleite bewahrt werden mussten, das kam erst nach der Finanzkrise. Erst seitdem leben die Regierungen in lähmender Furcht vor den Launen der Finanzmärkte und den Urteilen der Rating-Agenturen. Nicht, weil sie in der Krise versagt hätten, sondern weil sie das Richtige getan haben.

Für die Rettung der Banken fühlten sich die Staaten zuständig. Für die Rettung der Staaten ist niemand zuständig - außer sie selbst. Die Banken sind für ihre Bilanzen zuständig, nicht für das gemeine Wohl. Dass Regierungen nun um das Vertrauen der Märkte werben, ja betteln müssen, hat nicht mit ihrem Versagen zu tun, sondern mit ihren Leistungen. Die offenkundige Dominanz der Finanzmärkte ist der Lohn für ihr katastrophales Versagen.

Die Folge: Regierungen tun nicht mehr, was sie im Interesse ihrer Bürger für richtig und nötig halten, sondern was Finanzmärkte und Ratingagenturen ihnen diktieren. Politik hat nicht mehr mit der Frage zu tun, wie wir leben wollen, sondern mit der Frage, wie wir zu leben haben. Ist das dann noch Politik? Haben die Marktradikalen mit dem Aushungern des Staates genau dies gewollt? Kommt nun als Sachzwang wieder, was als Verheißung allgemeinen Glücks unverkäuflich geworden ist?

Die Auseinandersetzungen in den Regierungsfraktionen im Bundestag wirken vor diesem Hintergrund fast schon komisch. Sollen wir, die tüchtigen, fleißigen, sparsamen Deutschen, für die Schulden der weniger tüchtigen, weniger fleißigen, weniger sparsamen Südländer bürgen? Soll die Europäische Union eine Transferunion werden? Sie ist es längst, auch wenn in den Verträgen nichts davon steht.

Wären wir, die tüchtigen Deutschen, nicht doch alleine, ohne all diesen Ballast, viel besser dran? O heilige Einfalt! Die Finanzmärkte können mit jedem der europäischen Nationalstaaten kegeln, auch mit dem deutschen. Erst würden sie den Kurs unserer Währung in schwindelnde Höhen treiben, bis der Export einbricht und damit die Konjunktur. Und dann, zumal wenn die Steuersenker über den gesunden Menschenverstand gesiegt haben, würden sie entdecken, wie hoch unser Staat verschuldet ist.

Mut zur Solidarität

Der Nationalstaat muss Kompetenzen abgeben, fragt sich nur, an wen: an die EU oder an die Finanzmärkte? Wenn es in Europa auch künftig noch Politik geben soll, wenn die Europäer noch auf das Recht pochen wollen, auf demokratische Weise zu sagen, wie sie leben wollen, dann nur, wenn es einen gemeinsamen europäischen Willen zu einer gemeinsamen Politik gibt - und dazu die Institutionen, die diesen Willen wirksam werden lassen. Auch dann wird noch spekuliert werden, auch dann ist nicht für immer klar, wo der Primat des Handelns liegt, aber dann gibt es eine reale Chance für demokratische Politik. Sonst nicht.

Erhard Eppler Presents Book On SPD

Erhard Eppler, 84, war 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit unter Willy Brandt und von 1973 bis 1992 Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD.

(Foto: Getty Images)

Dafür müssen die Deutschen einiges bezahlen. Und sie können es, solange sie die Vorteile des Euro genießen. Dabei werden Euro-Anleihen billiger sein als all der Murks, bei dem die Akteure zu Beginn nicht so recht wussten, ob sie nun Freunden helfen oder Versager bestrafen wollten. Dass bei diesen Versuchen nichts herauskommen kann außer Verbitterung, Entmutigung und noch mehr Murks, war abzusehen.

Wer dafür sorgen will, dass es in Europa auch künftig noch Politik geben kann, muss Politik machen, nicht taktieren und vor allem die Bild-Zeitung vergessen. Er muss den Mut haben, auch in Sachen Europa ein Wort auszusprechen, das die Marktradikalen in Verruf gebracht haben: Solidarität. Es gibt keine Gemeinschaft ohne Solidarität, auch keine europäische. Wettbewerb muss auch sein, aber dazu braucht man keine Gemeinschaft.

Demokratie ist eine europäische Erfindung. Demokratie ist eine Staatsform, die Form politischer Willensbildung.

Alle Gewalt soll von den Regierten ausgehen. Sie sollen ihre Macht delegieren in freien Wahlen. Wo die entscheidende Gewalt von den Finanzmärkten ausgeht, kann es zwar freie Wahlen geben, aber sie werden zur Farce. Und Demokratie wird zum Formelkram. Es gibt viele Argumente für ein vereinigtes Europa. Dass ohne dieses Europa die Demokratie ihre Substanz verliert, mag neu sein. Aber es wiegt schwer. Dass immer mehr Politik in Brüssel gemacht wird, ist kein Unglück. Sie wird dort oder gar nicht gemacht.

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