Naher Osten:Die Machtinteressen im Irak

Fighters of the Islamic State of Iraq and the Levant (ISIL) stand guard at a checkpoint in the northern Iraq city of Mosul

Dschihadisten von Isis in der Nähe der nordirakischen Stadt Mossul.

(Foto: REUTERS)

Der Vormarsch der radikal-islamischen Terrorgruppe Isis bedroht nicht nur die Herrscher im Irak. Das Machtgefüge einer Region gerät ins Wanken. Warum das Regime in Iran fast alles tun wird, um Iraks Premier Maliki zu stützen, wieso US-Präsident Obama zögert und welche Rolle die Türkei spielt.

Von Matthias Kolb und Sebastian Gierke

Allein in diesem Jahr sind im Irak mehr als 5400 Menschen getötet worden - Experten schätzen, dass die Dschihadisten von Isis für mindestens drei Viertel der Toten verantwortlich sind. Was will die radikal-islamische Sunniten-Miliz "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien"? Warum behält sich US-Präsident Obama eine "militärische Option" vor und wieso verspricht Iran dem irakischen Premier "uneingeschränkte Solidarität"? Welche Interessen haben die Türkei, die Golf-Staaten sowie Syriens Präsident Assad? Die wichtigsten Akteure im Überblick:

Die Dschihadisten von Isis: hochmotivierte Gotteskrieger

Sie verbieten Rauchen, Fußball und Musik, Frauen müssen einen Schleier tragen. Gegen ihre Feinde gehen die Mitglieder der radikal-islamischen Sunniten-Miliz "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" mit grausamer Härte vor. Sie köpfen Schiiten und andere Gefangene und stellen die Videos ins Internet - sogar al-Qaida distanziert sich aufgrund der Brutalität von Isis. Dem Economist zufolge verfügt die Miliz im Irak über 6000 Kämpfer, in Syrien hat die Gruppierung maximal 5000 Männer unter Waffen. Darunter sind etwa 3000 Ausländer - aus Nordafrika, aber auch aus Westeuropa.

Shakir Waheib

Dieses Foto von Isis-Kämpfern aus dem Irak wurde Anfang Januar auf einer Islamisten-Website gepostet.

(Foto: AP)

Im Internet kursiert ein Foto, auf dem ein Sandwall zwischen Syrien und Irak von Isis-Mitgliedern zerstört wird. Darunter stehe dieser Satz: "Die Löwen des islamischen Staats reißen die Barrieren ein zwischen dem Irak und Großsyrien!"

Naher Osten: Dieses Foto wird von der Dschihadisten-Website "Al-Baraka news" verbreitet.

Dieses Foto wird von der Dschihadisten-Website "Al-Baraka news" verbreitet.

(Foto: AFP)

Für SZ-Korrespondent Tomas Avenarius wird hier das Ziel der Gruppe deutlich: "Die Extremisten führen nicht nur einen Heiligen Krieg. Sie zerstören auch die fast einhundertjährige Staatenordnung im Nahen Osten. Sie legen die Axt an das Sykes-Picot-Abkommen, jenen Geheimvertrag, in dem die imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die Region aufteilten und ihr ihre bis heute geltende Gestalt und ihre Grenzen gaben."

Die Miliz wird von dem Iraker Abu Bakr al-Bagdadi angeführt; die Kämpfer gelten als hochmotiviert. In jenen Gebieten, die Isis kontrolliert, erhebt sie Steuern - und die Waffenkäufe werden unter anderem mit dem Verkauf von Erdöl finanziert. Ein Isis-Sprecher kündigte an, die Gruppe werde "Terror in die Herzen der Schiiten" bringen und diese zur Flucht zwingen (Hintergründe über den Kampf zwischen Sunniten und Schiiten in dieser SZ-Analyse). Weltweit gehören knapp 90 Prozent der Muslime zu den Sunniten, etwa zehn Prozent sind Schiiten - die Spaltung geht auf einen Streit um die Nachfolge des Propheten Mohammad zurück.

Momentan leben fünf bis sechs Millionen Menschen in den Territorien, die Isis kontrolliert. Die Sunniten, die dort leben, sind nach Einschätzung von Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik "mehrheitlich keine Freunde von al-Qaida oder Isis, aber sie sind die Feinde der Regierung." Allerdings werde der schiitische Premier Nuri al-Maliki und dessen Apparat von vielen gehasst.

Premier Maliki: hilflos in Bagdad

Seit acht Jahren regiert Nuri al-Maliki als Ministerpräsident den Irak. Als Saddam Hussein 1979 an die Macht kam, floh er erst nach Syrien und später in den Iran. Nach dem Sturz des Diktators kehrte er in den Irak zurück. Empfohlen wurde der Schiit 2006 vom damaligen US-Botschafter Zalmay Khalilzad, der Maliki zutraute, sich durchzusetzen und im Zweistromland für Ordnung zu sorgen. Seitdem hält sich der Schiit an der Macht, doch er handelt alles andere als ausgleichend. "Er hat seit Anfang 2012 und eigentlich auch vorher schon alles falsch gemacht, was man falsch machen kann", analysiert Nahost-Experte Guido Steinberg im SZ.de-Interview.

Nouri al-Maliki

Iraks Premierminister Nuri al-Maliki.

(Foto: AP)

Maliki hat es versäumt, Sunniten und Kurden in seine Regierung einzubinden. Auch wenn er im April 2014 die Wahl gewonnen hat, hat er bis heute kein Kabinett bilden können. SZ-Korrespondent Tomas Avenarius betont die zentrale Rolle des Premiers: "Sein Versagen liegt auf der Hand: Er ist in Personalunion Regierungschef, Innen- und Verteidigungsminister, mithin für Armee und Polizei persönlich verantwortlich."

Doch seit die US-Armee Ende 2011 auf Drängen Malikis abgezogen ist, weiß die Bagdader Regierung nicht mehr, was in vielen Regionen passiert, wie Experte Steinberg betont: "Bagdad bekommt keine Informationen mehr. Für die Bekämpfung von Gruppen wie al-Qaida und Isis ist dies aber das A und O." Diese "Blindheit" rächt sich nun. Denn trotz eindeutiger Warnungen aus Washington, dass Isis seit Monaten auf dem Vormarsch ist, konnte die Regierung nicht reagieren. Der machtbewusste al-Maliki ist nun vor allem eins: hilflos.

Iran: Schutzmacht der Schiiten

Für die Regierung in Teheran ist das Erstarken der Isis ein Horror-Szenario. Die Dschihadisten kontrollieren nun etwa Mossul - die zweitgrößte irakische Stadt liegt näher an der iranischen Grenze als an Bagdad. Schnell verspricht Präsident Rouhani der irakischen Regierung "uneingeschränkte Solidarität" und schickt sogar die Elite-Kämpfer der Revolutionsgarden ins Nachbarland.

SZ-Korrespondent Tomas Avenarius beschreibt Teherans Lage so:

"Die Iraner als Bundesgenossen der Regierung von Iraks Premier al-Maliki können nicht zulassen, dass die Sunniten im Irak wieder die Macht übernehmen. Erst der Sturz des sunnitischen Saddam-Regimes 2003 und die Machtübernahme durch die irakischen Schiiten haben es Teheran erlaubt, zur Regionalmacht am Persischen Golf aufzusteigen. Früher stand den iranischen Ambitionen ein feindliches Regime in Bagdad entgegen. Teheran muss Maliki und seine Schiiten an der Macht halten, um jeden Preis."

Ein hoher Regierungsfunktionär sagte zu der Nachrichtenseite Al Monitor: "Wir sind zur Hilfe bereit, wenn uns die Iraker darum bitten. Wir werden mit dem Irak genauso umgehen wie Syrien und unseren Nachbarn beraten." Die Herausforderung sei "ernst", sagte der Offizielle, doch nun ergebe sich auch eine Möglichkeit, die regionalen Kräfte im "Kampf gegen das Böse" zu vereinen. Die New York Times zitiert den prominenten Analysten Mashallah Shamsolvazein mit einer eindeutigen Aussage: "Falls es nötig ist, können wir in den Irak eindringen und Isis auslöschen."

Dass Teheran seine Verbündeten enorm unterstützt, zeigte sich in Syrien: Iranische Berater reformieren Assads Armeeführung, persische Revolutionsgardisten bildeten Soldaten aus und kämpften gemeinsam mit 2000 Angehörigen der libanesischen Hisbollah-Miliz gegen die Aufständischen (Details in diesem SZ-Artikel). So gelang es Assads Truppen, im Juni 2013 die strategisch wichtige Rebellen-Hochburg al-Kusair einzunehmen - und Teheran konnte die wichtige Verbindungslinie von Iran via Syrien in den Libanon erhalten.

Golfstaaten - Unterstützung mit unabsehbaren Folgen

Der iranische Präsident Hassan Rohani warnte in den vergangenen Monaten immer wieder davor, die Unterstützung Saudi-Arabiens und Katars für dubiose Dschihadisten im syrischen Bürgerkrieg befördere den Extremismus und könne die Region dauerhaft destabilisieren. Das scheint sich jetzt zu bewahrheiten.

Die Golfstaaten und vor allem Saudi-Arabien haben mit großer Wahrscheinlichkeit einen erheblichen Anteil am Erstarken von Isis. Die Terrorgruppe ist im Irak schon lange aktiv, kämpfte während der US-Besatzung gegen die Amerikaner.

Im Kampf um die regionale Vorherrschaft, vor allem aber im Kampf um die Macht zwischen Sunniten und Schiiten ist Saudi-Arabien, Machtbasis der Sunniten, der schärfste Widersacher des Iran. SZ-Korrespondent Tomas Avenarius analysiert: "Die Saudis sehen im schiitischen Irak und in Premier Maliki ebenso Vasallen der Islamischen Republik Iran wie im syrischen Staatschef Assad, der ebenfalls einer schiitischen Sekte angehört."

Deshalb ist anzunehmen, dass die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien und Katar, die Terrorgruppe zumindest anfangs auch finanziell unterstützt haben. Wichtig war den Golfstaaten nur: Die Gruppe ist gegen Iran und gegen den syrischen Machthaber Assad. Mittlerweile unterstützt Saudi-Arabien in Syrien nur noch die gemäßigten Rebellen - und versucht die radikalen Gotteskrieger möglichst klein zu halten. Das Königshaus in Riad fürchtet, dass Isis auch gegen sie vorgehen könnte.

Tomas Avenarius schreibt: "Die Militanten könnten im grenzüberschreitenden Heiligen Krieg nach dem Kampf im Irak und in Syrien auch rasch in Richtung Saudi-Arabien ziehen. Das Land ist das Traumziel aller Gotteskrieger: Dort liegen die Heiligen Stätten Mekka und Medina. Das saudische Königshaus gilt allen Dschihadisten als Inbegriff der Verworfenheit."

US-Präsident Obama in der Zwickmühle

In Washington erklärt US-Präsident Obama, sein Beraterteam prüfe "alle Optionen". Wörtlich sagte er zunächst: "Ich schließe nichts aus." Die USA hätten kein Interesse, dass Dschihadisten im Irak oder in Syrien permanent Fuß fassen, so Obama. Auch wenn er Bagdad seine Unterstützung zusicherte, so kritisierte er indirekt Premier al-Maliki: "Dies sollte ein Weckruf für die irakische Regierung sein." Aus dem Verteidigungsministerium verlautete, die USA hätten im Irak bereits Aufklärungsdrohnen im Einsatz, um die Regierung in Bagdad beim Kampf gegen die Rebellen zu unterstützen. Einen Tag später sagte Obama dann, er werde keine Bodentruppen "zurück in den Irak" schicken. Allerdings würden seine Berater andere Optionen prüfen, den Irak zu unterstützen. Experten wie der Politologe Jochen Hippler rechnen damit, dass Washington Luftangriffe mit Drohnen gegen Isis anordnet, um deren Vormarsch zu stoppen.

Die Republikaner äußern sich - wie immer - sehr kritisch zur Außenpolitik Obamas: Der überstürzte Abzug der US-Armee Ende 2011 habe den Irak sich selbst überlassen und so den Vormarsch der Isis erst ermöglicht. Wirklich überprüfen lassen sich solche Anschuldigungen nicht. SZ-Autor Hubert Wetzel bemerkt:

"Es ist ebenso unklar, ob Obama die Gespräche mit Bagdad über eine längere US-Militärpräsenz wirklich willentlich scheitern ließ, oder ob nicht doch die Iraker - unter dem Druck Irans - die Schuld daran tragen. Sicher ist wohl nur, dass der Irakkriegsgegner Obama kein großes Interesse hatte, noch lange Soldaten - schon gar nicht Kampftruppen - in dem Land zu belassen. Das hätte wohl auch die amerikanische Öffentlichkeit nicht mitgetragen: Obama wurde 2008 auch wegen seines Versprechens gewählt, den Krieg im Irak zu beenden."

Barack Obama

Die Lage im Irak bereitet US-Präsident Barack Obama Kopfzerbrechen.

(Foto: AP)

Eine Sache ist jedoch unstrittig: Obwohl Amerika bis zum Abzug 25 Milliarden Dollar in die Ausbildung und Ausstattung der irakischen Streitkräfte gesteckt hat, stellt sich nun heraus, dass diese Soldaten bis auf einige Spezialeinheiten im Kampf gegen Isis nutzlos sind. Im Gegenteil: In Mossul liefen viele irakische Soldaten zu den Dschihadisten über, so dass diese neben viel Geld auch hochwertige Waffen in Besitz nahmen, welche die US-Armee zurückgelassen hatte.

Syrien: Die Zeit spielt für Assad

Anfang Juni ließ sich Syriens Präsident in einer "Wahlparodie" im Amt bestätigen. Momentan sieht die Lage für den Diktator in Damaskus recht gut aus. Er hat die Dschihadisten der Isis in Ruhe gelassen, so dass diese gegen die anderen Aufständischen im Norden und Osten Syriens kämpften. Das Image und die Moral der Anti-Assad-Rebellen wie etwa der Freien Syrischen Armee haben zuletzt gelitten - und die Unterstützung aus dem Ausland mit Geld und Waffen ließ nach.

Assads Gegner wurden dadurch geschwächt - und die "Horrortaten der Isis" zeigten dem Westen, wie bedrohlich die Lage in Syrien werden könnte, wenn der syrische Präsident und sein Regime gestürzt würden. Ein Flächenbrand wäre unvermeidlich.

Türkei: Macht und Ohnmacht

Die Türkei grenzt an Syrien und den Irak, also an zwei Staaten, in denen die Islamistengruppe Isis jüngst Siege errungen hat. Die Regierung in Ankara hat sich sehr für die syrischen Aufständischen eingesetzt: Um Präsident Assad zu schaden, ließ die Türkei laut Economist bis Ende 2013 ausländische Dschihadisten unbehelligt nach Syrien einreisen. Doch auch aufgrund der kurdischen Komponente ist die Türkei in den Konflikt involviert.

SZ-Türkei-Korrespondentin Christiane Schlötzer schreibt:

"Isis kontrolliert bereits das Grenzgebiet in Nordostsyrien - und nun auch jenen Teil des Nordirak, der nicht unter kurdische Administration fällt. Mit den nordirakischen Kurden hat die Türkei inzwischen entspannte Beziehungen. Das gilt ganz und gar nicht für das Verhältnis zwischen Ankara und der Regierung in Bagdad. Denn die Türkei hilft den irakischen Kurden, ihre Ölvorräte an den Westen zu verkaufen, was Bagdad nicht passt."

Außerdem sieht Ankara es nicht gern, dass die Kurden im Nordirak für ihr Vorgehen gegen Isis von Badgad mit einiger Wahrscheinlichkeit belohnt werden. Erhalten sie den Preis, den sie verlangen, könnte die Kurden dadurch gestärkt werden. Für die Türkei ist das ein beunruhigendes Szenario.

Denn schon wittern die Kurden ihre Chance auf Unabhängigkeit. Bislang waren sie im Spiel der Mächte in der Region immer der Verlierer. Erst mit der US-Invasion 2003 konnten sie eine Autonomieregion im Nordirak errichten. Viele Kurden leben aber auch in den irakischen Städten Mossul und Kirkuk südlich der Grenze. Als diese Städte nun von irakischen Soldaten verlassen und von Isis-Kämpfern bedroht wurden, stieß die kurdische Peschmerga-Armee in das Vakuum vor.

Besonders alarmiert ist die Türkei, seit die Isis-Rebellen das türkische Konsulat in Mossul besetzt und türkische Diplomaten sowie Angehörige und Sicherheitsleute als Geisel genommen haben. Von einer "Kriegserklärung" ist die Rede. Die Regierung beriet am Donnerstag auf einer Sondersitzung, wie sie darauf reagiert. Offenbar gibt es bereits Verhandlungen mit den Militanten. Laut Justizminister Bekir Bozdağ lässt die Regierung aber auch prüfen, ob ein vom Parlament 2013 erteiltes Mandat zur Verfolgung kurdischer PKK-Rebellen im Irak auch eine militärische Befreiungsaktion erlauben würde.

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