Luther-Jahr:Super-Martins Erbe

Luther-Jahr: ABB: Lucas Cranach D.Ä. - Martin Luther, 1528, Collage: SZ

ABB: Lucas Cranach D.Ä. - Martin Luther, 1528, Collage: SZ

Deutschland feiert im großen Stil die Reformation, obwohl vielen Luther kaum noch etwas sagt. Das hat mit der Sehnsucht nach Identität zu tun - aber auch mit der weltweiten Wirkung bis heute.

Von Johan Schloemann

Ein Staatsakt für Martin Luther? Am kommenden Montag wird das Reformationsjubiläum in Deutschland offiziell eingeläutet. Nicht etwa im nationalprotestantischen Berliner Dom, sondern im weltlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt treffen sich Bund, Länder, Gemeinden und sonstige Teile der Republik zur Eröffnungsfeier. An der Spitze steht der Bundespräsident und langjährige evangelische Pastor Joachim Gauck.

Der Termin dieses Staatsaktes ist der 31. Oktober, der Reformationstag (für andere Halloween). An diesem Tag im Jahre 1517 hat Martin Luther, ein 33-jähriger Augustinermönch und Professor für Bibelauslegung, in Wittenberg seine 95 Thesen zum Ablasshandel entweder an Kirchentüren angehämmert, angeklebt oder nur per Brief verschickt, je nach Überlieferung.

Der Ablass war eine Art Flatrate der katholischen Kirche, mit der man Sünder von Strafen freikaufen konnte. Luther griff dieses Geschäftsmodell mit guten theologischen Gründen an, sodann auch den Klerus und den Papst insgesamt. Die Reaktionen waren heftig, und drei Jahre nach dem "Thesenanschlag" wurde der Reformator, inzwischen berühmt und verehrt, mitsamt allen Anhängern aus der römischen Kirche ausgeschlossen. Nach nur fünf weiteren Jahren heiratete Luther eine entlaufene Nonne und verabschiedete so den Zölibat, das Ehe-Verbot für Priester. Seine Grundidee war: Nicht die Vorschriften der kirchlichen Autoritäten - Heiligenverehrung, Rosenkranz, Fasten, Spenden und so fort -, nur Glaube und Gnade bringen das Seelenheil. Dabei sollten sich Christen nicht auf Latein sprechende Experten verlassen, forderte Luther, sondern sich selbst mit dem Wort Gottes befassen.

Man könnte fast meinen, es brause eine große neue Erweckung durch das Land

Schon Renaissance, Humanismus und frühere Kirchenkritiker hatten den Boden dafür bereitet, aber jetzt verbreitete sich die Kunde rasant. Teils folgte man Luther, teils anderen Reformatoren, die zur gleichen Zeit aufstiegen. So kam es zur Kirchenspaltung, zu einer zunächst meist friedlichen Revolution der Frömmigkeit, bald auch zu Kriegen und großen politischen Umwälzungen in Europa und der Welt. Dieses Ereignis mit seinen Folgen wird jetzt, nach längerem Vorlauf schon, ein ganzes Jahr lang bedacht und begangen werden. Und zwar bis hin zum 31. Oktober 2017, dem eigentlichen 500. Jahrestag.

Man könnte fast meinen, es brause eine große neue Erweckung durch das Land. Im Sinne des alten Kirchenliedes "Wach auf, wach auf, du deutsches Land! / Du hast genug geschlafen ..." Denn nicht bloß der Staat feiert Luther, die Obrigkeit also, zu welcher der Protestantismus ein oft inniges und nicht selten problematisches Verhältnis pflegte. Nicht nur die evangelische Kirche, die im engeren Sinne zuständig ist und alle Kommunikationskanäle so eifrig nutzt, als müsste sie etwas loswerden, was sie eigentlich schon immer beschäftigen sollte - Marketing-Stichwort: Kernbotschaft. Und nicht nur der Tourismus hofft auf so etwas wie das größte deutsche Weltereignis seit der Fußball-WM 2006. Nein, die gesamte Kultur des Landes scheint im Reformationsfieber zu sein: Fernsehprogramme, Ausstellungen, Beilagen, Bücher, Konzerte, Events.

Man darf sich davon nicht täuschen lassen. Das Megajubiläum, das auf manche eher unprotestantisch unbescheiden wirken kann, findet statt in einer einerseits multireligiösen, andererseits herzlich indifferenten Gesellschaft. Die zentralen Luther-Orte rund um die Wartburg und Wittenberg liegen heute in weitgehend entchristianisierten Gegenden. In den deutschen Großstädten sind die Mitglieder christlicher Kirchen nunmehr in der Minderheit, übrigens auch in München.

Innerhalb der evangelischen Kirche ist die Mobilisierung mager. Ihre geistliche und kulturelle Lebendigkeit ist zwar nicht zu unterschätzen - so gibt es zum Beispiel noch fast 13 000 evangelische Kirchenchöre in Deutschland. Aber von den zuletzt gezählten gut 22 Millionen Mitgliedern gehen, von Heiligabend abgesehen, nur zwischen drei und sieben Prozent mal in die Kirche. Das heißt, dass an sehr wenigen Sonntagen im Jahr mehr als eine Million Evangelische einen Gottesdienst besuchen, an den anderen deutlich weniger. Und selbst für die Gläubigen und die Interessierten gelingt die Identifikation mit dem Jubiläum 1517/2017 nicht unmittelbar: Martin Luther kann man auch als Protestant heute nur näherkommen, indem man versucht, auch seine Fremdheit zu verstehen, und ihn - zwischen Demut und Grobianismus - weder zum Superhelden noch zum Kumpel macht.

Aber wenn das so ist - warum nimmt dann das Jubiläum nach 500 Jahren solche Dimensionen an? Ein Teil der Erklärung dürften Sehnsüchte nach Identität und Herkunft sein, auch in der Politik; ein anderer Teil, dass gerade die schrumpfende evangelische Kirche sich im Bekenntnis zu dieser Herkunft erneuerungsfähig zeigen kann oder wenigstens zeigen will. Und ein weiterer kleiner Teil ist, dass auch die populäre Kultur, dass unzählige Romane und Serien in jüngster Zeit sehr gerne in historischen Themen schwelgen. History Channel ist überall.

Entscheidend dürfte aber etwas anderes sein: Die kulturelle und politische Langzeitwirkung der Reformation ist weit größer als die heutige Frömmigkeitspraxis. Auch wenn heutige Historiker mit simplen Ursache-Wirkung-Mechanismen zu Recht sehr vorsichtig umgehen - also mit Erklärungen nach dem Muster: ohne Luther kein Shakespeare, ohne Luther kein Kapitalismus -, so findet man doch in beinahe jedem Partikelchen der gegenwärtigen modernen Welt Spuren der Reformation. Und jeder kann sich aus dem Puzzle sein Lieblingsstückchen herausnehmen.

Den einen macht es Spaß, bei den ostdeutschen Führungsfiguren, der Pastorentochter Angela Merkel und eben Joachim Gauck, Prägungen des evangelischen Pfarrhauses zu entdecken - wobei das Nebeneinander von emotionaler Wortgewalt und Nüchternheit gleich schon zeigt, wie vielgestaltig die Protestanten oder auch nur die Klischees von ihnen sind. Andere interessieren sich für die Reformation als Medienrevolution: Erst durch sie bekam der Buchdruck seine öffentliche Massenwirkung, in Form von Flugblättern und kleineren Heften. Zwischen 1520 und 1526 verbreiteten sich, so schätzt man, rund 11 000 Drucke in mehr als elf Millionen Exemplaren. Das wirkte damals auf die Zeitgenossen etwa so wie später die erste Live-Übertragung im Fernsehen oder heute der Siegeszug des mobilen Echtzeit-Internets.

Sehr aktuell ist der Beitrag des Reformators zur Frage der Religionsfreiheit

Sehr aktuell ist der Beitrag der Reformation zur Frage der Religionsfreiheit, also zum friedlichen Nebeneinander verschiedener Konfessionen und Religionen. Zwar darf man Luthers Blick auf den "inneren Menschen" noch nicht mit einer modernen Gewissensfreiheit verwechseln. Auch war Luther selbst mal gewaltfrei gestimmt ("Ich kann keinen in den Himmel treiben oder mit Knüppeln dahin schlagen"), konnte aber über rebellierende Bauern und über Juden auch ganz anders reden. Doch dass sich Katholiken und Protestanten nach langen Kämpfen am Ende miteinander arrangieren mussten, dass die religiösen Wahrheitsfragen zugunsten von rechtlichen Regelungen zurückgestellt wurden, das kann heute als ein europäisches Modell genutzt werden: einerseits für einen entspannten Umgang mit der öffentlich sichtbaren Frömmigkeit von Muslimen; andererseits aber für die Forderung an den Islam, Religion nicht theokratisch oder gewaltsam durchsetzen zu wollen.

Überhaupt kann man gute wie unheilvolle politische Wirkungen des Protestantismus entdecken. Der Trennung von Kirche und Staat stand oft zu viel Staatstreue mit nationalem Pflichtgefühl gegenüber. Die berüchtigte "Innerlichkeit" konnte mal zu schwärmerischem Fundamentalismus und emotionaler Repression ausarten, doch erkennt man heute darin auch den Keim der modernen Individualität, der Anerkennung des je eigenen Glaubens und Denkens, vielleicht sogar der Gleichheitsidee, der Menschenrechte und der Säkularisierung - auch wenn Letztere ganz sicher nicht der Plan von Martin Luther war.

Wem das alles zu abstrakt und politisch ist, der findet in der Reformation auch einfach gute Geschichten, Erbauung, einen kulturellen Schatz. Die Pflege von Sprache, Dichtung, Bildung und Schule, aber auch der historisch-kritische Umgang damit, ist ein protestantisches Erbe, weit über die Bibelübersetzung hinaus. Wir sprechen heute, ob wir wollen oder nicht, immer auch lutherisch. Und nicht nur die Musik von Schütz, Bach und Brahms kommt von Luther her; der aktuelle Mainstream der Popmusik - der R 'n' B von Weltstars wie Beyoncé - stammt aus dem Gotteslob der protestantischen Erweckungsbewegungen Amerikas. Die Reformation ist ein globales Phänomen. Man wird sehen, ob auch diese Perspektive das Jubiläumsjahr bestimmen wird, nicht nur die erhabene Stimmung eines deutschen Staatsaktes.

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