Lohnentwicklung:Die Schere ruht

Die gute Nachricht: Die Lohnspreizung scheint zum Erliegen gekommen: Niedrige Löhne steigen genauso stark wie hohe. Die schlechte: Dazwischen liegen Welten.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Für die Lohnentwicklung in Deutschland galt lange Zeit eine einfache Formel: Wer hat, dem wird gegeben. Statistisch ließ sich das leicht festmachen: Die obere Hälfte der Arbeitnehmer, also die 50 Prozent mit den höheren Einkommen, konnten seit Mitte der Neunziger auch ihre Löhne steigern. Bei den 40 Prozent mit den unteren Einkommen dagegen sah es umgekehrt aus. Bereinigt um die Inflationsrate gingen hier die Stundenlöhne zurück. So war das - bis 2010.

Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben nun ein vorläufiges Ende des Trends festgestellt. Nicht nur seien seit 2010 die Stundenlöhne flächendeckend gestiegen, heißt es im jüngsten Wochenbericht des Berliner Forschungsinstituts. Die Zuwächse verteilten sich auch gleichmäßiger über die verschiedenen Gruppen. "So geht zumindest die Schere zwischen den besonders hohen und den geringen Löhnen nicht weiter auseinander", schreiben die Forscher. "Sie hat sich aber auch noch nicht wieder geschlossen." Das Nachsehen dagegen hatten die Bezieher mittlerer Einkommen. Ihre Löhne entwickelten sich zuletzt unterdurchschnittlich.

Noch immer verdienen die oberen 20 Prozent dreimal mehr als die unteren 20 Prozent

Das DIW stützt sich dabei auf Daten aus Haushaltsumfragen, dem Sozio-ökonomischen Panel. Die Statistiker teilen die Arbeitnehmerschaft entlang ihrer Einkünfte in sogenannte Dezile auf - zehn gleich große Gruppen, die aber unterschiedlich gut verdienen. Die einkommensschwächsten Haushalte finden sich in den zwei untersten Dezilen: die 20 Prozent mit der schwächsten Entlohnung. Analog bilden die zwei obersten Dezile unter anderem Führungskräfte mit entsprechend hoher Entlohnung ab. Klingt kompliziert, erlaubt aber eine Menge interessanter Schlüsse.

So lässt sich ablesen, um wie viel höher die Bruttostundenlöhne der oberen 20 Prozent gegenüber denen der unteren 20 Prozent sind. Mitte der Neunziger waren sie etwas mehr als doppelt so groß, bis 2005 stiegen sie kontinuierlich an, auf das knapp Dreifache. Dort stagnieren sie seither. Nimmt man nur die jeweils obersten und untersten Dezile, ist das Bild ähnlich - nur unterscheiden sich die Löhne um das Sechsfache. "Der Trend einer zunehmenden Lohnspreizung bei den Stundenverdiensten ist offenbar um das Jahr 2010 herum zum Stillstand gekommen", sagt Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am DIW.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 lassen die Forscher nur teilweise als Erklärung gelten. Zwar habe sie die untersten Löhne steigen lassen. Die Entwicklung hin zu höheren Stundenlöhnen habe sich aber schon vorher abgezeichnet. Ein Teil der Erklärung findet sich offenbar auch im Wohnort. In den beiden untersten Dezilen finden sich mittlerweile mehr Westdeutsche als früher - die aber verdienen im Schnitt etwas besser als ihre Kollegen in Ostdeutschland. Auch gelingt es einem Teil der Geringverdiener, sich in höhere Lohngruppen hochzukämpfen. Verglichen mit 2010 habe die Hälfte der Geringverdienenden aus den untersten zwei Einkommensgruppen es geschafft, höhere Stundenlöhne für sich durchzusetzen.

Ein Rätsel freilich bleibt - denn die Lohnentwicklung bei Geringverdienern widerspricht eigentlich der Nachfrage. Seit Jahren sinkt der Bedarf an Arbeitskräften mit geringer Qualifikation. "Diese Entwicklung hätte eigentlich in einer zunehmenden Spreizung bei den Stundenlöhnen führen müssen", heißt es in der Studie. "Hier ist weitere Forschungsarbeit nötig."

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