Live-Ticker:Wo ist Regierung? Wir gucken Erklärung!

Jetzt erklärt sie uns also, wie das alles werden soll. Mit den Arbeitslosen, den Rentnern, all dem wenigen Geld. Und überhaupt. Wir hören zu, na klar. Ein Ausfluss reinster Herzen.

10.59 Uhr: Norbert Lammert, unser Bundestagspräsident, ist natürlich pünktlich. Es kann losgehen. Erst mal ein Geburtstagsgruß an Hermann-Otto Solms zum 65. Und nochmal die News, dass Beckstein sein Mandat zurückgegeben hat. Grummeln im Auditorium. Beckstein ist trotzdem nicht da.

Angela Merkel und ihr Kabinett

Mission completed: Angela Merkel nach ihrer ersten Regierungserklärung auf dem Weg zurück in die Regierungsbank.

(Foto: Foto: Reuters)

11.03 Uhr: Auftritt die Kanzlerin. In Schwarz mit weißen Knöpfen. Erst mal ein paar Worte "aus aktuellem Anlass": Es geht um die entführte Deutsche im Irak. "Wir lassen uns nicht erpressen." Weiter: tiefe Solidarität, Verbundenheit, werden alles versuchen. Angemessene Worte. Auch wenn sie sich ihre erste Regierungserklärung sicher nicht so vorgestellt hat.

11.10 Uhr: Jetzt aber zu ihr und ihrer neuen Regierung: "Für wen ist das heute die größte Überraschung? Wer hätte gedacht, dass eine Frau jetzt schon das höchste Regierungsamt innehat? Für mich ist der Gewinn der Freiheit vor dem Rentenalter die größte Überraschung." In der DDR durften die Rentner schließlich ausreisen.

Und nun ab ins Reale: Sie möchte einer "Koalition der neuen Möglichkeiten für alle Deutschen" vorstehen. Damit "Deutschland die zweiten Gründerjahre erlebt". Denn: Innerhalb von zehn Jahren soll Deutschland zu den ersten Drei in Europa gehören. "Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren." Na dann, gut Holz!

11.18 Uhr: Das ist ihr jetzt wirklich wichtig: Sie glaubt an jeden Einzelnen in Deutschland. Ihr Motto, in Anlehnung an Willy Brandt: "Mehr Freiheit wagen!" Darum adressiert sie als Leistungsträger keine Verbände und Lobbyisten, sondern jedes einzelne Individuum und verweist auf die großen Errungenschaften der Vergangenheit: "Wir sind ein Land der Ideen: das erste Auto, der erste Computer, Aspirin kommen aus Deutschland." Dann kann ja nix mehr schief gehen. Gelächter im Saal. Merkel legt nach: "Es geht jetzt um das HighTech-Land, das ich mir wünsche." Aber: Deutschland sei keine Bildungsnation mehr und auf die Zukunft noch nicht hinreichend vorbereitet.

Was auffällt: Jetzt ist sie drin in ihrer Rede. Spricht flüssig, pointiert, kraftvoll, selbstbewusst. Nicht mehr so wie beim Weihnachtsvortrag in den ersten Minuten.

Ausdrücklich dankt sie ihrem verflossenen Lieblingsfeind für die Agenda 2010: "Gerhard Schröder hat sich um unser Land verdient gemacht."

11.28 Uhr: Und schon sind wir bei den Schwachen. Schicker Übergang, Frau Kanzlerin. "Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft zeigt sich daran, wie wir mit dieser Gruppe umgehen." Jetzt geht's ins Detail: Rente ab 67, kapitalgedeckte Demografiezulage, Väter-Komponente bei der Familienpolitik. Aber: wehe, "wenn sich Starke als Schwache verkleiden"! Rüffel für die Sozialschmarotzer! "Wir brauchen eine neue Form von Gerechtigkeit." Arbeit soll finanziert werden, nicht Nicht-Arbeit.

11:35 Uhr Merkel ist inzwischen wirklich in Fahrt. Die Materie ist staubtrocken, es stoibert bei ihr aber kein bisschen. Man hat den Eindruck einer bestens vorbereiteten Mutter Courage. Man nimmet ihr ab, dass sie das wirklich umsetzen will. Allerdings fehlt das "Wie" bislang gefährlich. Aber so müssen Regierungserklärungen auch sein.

Dennoch, so kommt also: "Wir brauchen ein Herz für Leistung." Denn "diejenigen, die Leistung bringen verdienen nicht Neid, sondern Dankbarkeit". Sie konzentriert sich aber auf den Mittelstand. Von ihm gehe die Leistung aus.

Ganz wichtig auch: Bürokratie-Abbau. Das unterstützen wir von hier aus allerwärmstens. Merkel bringt gute Vorbilder: die Niederlande, auch Großbritannien. "Wir schauen uns das an." EU-Richtlinen sollen künftig nur noch 1:1 umgesetzt werden und nicht mehr 150-prozentig. "Wir bürden uns hier zuviele Lasten auf und haben keine fairen Chancen mehr." Und: "Das sagen wir bei aller Freundschaft zu anderen Nationen." Vorschriften seien für die Menschen da - und nicht Menschen für Vorschriften. Das ist schön, Frau Merkel, nur ein Allgemeinplatz.

11:40 Uhr: Jetzt muss sie häufiger das Wort Engagement aussprechen - und da hapert´s. Egal. Es geht ja um Höheres: Es geht um die Kultur. Es geht um Geschichte. Etwa im Zusammenleben mit den Polen. Und ... das wars anscheinend auch schon. Ihre Regierung sei Anwalt aller Deutschen. Gegen Extremismus, Rassismus und Antisemitismus. "Deutschland ist ein weltoffenes Land." Aber "Parallel-Gesellschaften" passen nicht in dieses Denken. Integration sei darum eine gesamtpolitische Aufgabe, der sie hohe Beachtung schenke. Deutsch lernen in den Schulen, sei darum wichtig. Vom ersten Tag an sollen alle fremdsprachigen Schüler konsequent dazu gebracht werden. Sie tritt ein für den "Dialog der Kulturen". Aber den kann man nur führen, wenn man sich seiner Kultur bewusst ist. Gegen "Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde". Nun gut, auch ein Problem, sicher.

11.50 Uhr Wichtiger Satz jetzt mal: Lassen Sie uns das mit Freude angehen." Sie meint damit: Arbeitslosigkeit, d.h. ihre Beseitigung, das "größte Problem in Deutschland". Sie nennt zuerst überhaupt keine Zahl, sondern spricht von der "Verbesserung der Rahmenbedingungen".

Merkel nimmt Fahrt auf, spricht von ihren Erfahrungen: "Reden Sie doch mal mit dem Handwerksmeister in ihrem Wahlkreis" - man merkt, wie sehr ihr das Thema am Herzen liegt.

Fordert Besinnung auf Bildung und Innovation: "Sie sind mehr denn je der Rohstoff des Landes." Die Deutschen müssten besser sein als andere, dann könnten sie auch teurer sein. "Trained in Germany könnte wieder ein Markenzeichen werden wie Made in Germany."

"Wir müssen auf Leuchtturmprojekte setzen", fordert die Kanzlerin, mit folgenden Beispielen: elektronische Gesundheitskarte, Transrapid-Referenzstrecke, Nano-, Bio-, Info-Technologie. Dass sich das Wissen der Welt alle vier Jahre verdoppelt, werde bei uns mental noch nicht wahrgenommen.

Wo ist Regierung? Wir gucken Erklärung!

11:58 Uhr Verkehrswege-Planungs-Beschleunigungs-Gesetz ist ein langes Wort, soll aber dazu führen, dass man in Deutschland schneller vorankommt. Der Energiemix soll "grundlastfähig" sein, stoibert sie jetzt doch. Auch die Privatleute sollen sich künftig über Kohlendioxid-Emissionen Gedanken machen. Heute schon emittiert?

Von der Umwelt, hörbar ihrem füheren Spezialgebiet, geht's zur Föderalismus-Reform. F. soll ein Zugewinn für der Standort D. sein. Aber auch ums Geld muss es später irgendwann mal gehen - da klatscht sogar der Guido.

12:05 Uhr Stichwort Geld: Die Anfänge liegen weit zurück, nämlich bei der ersten großen Koalition, blickt sie zurück. Reformieren und investieren geht dabei vor. Dann erst kommt Sanieren, und der Dreiklang ist komplett. Dur oder Moll?

Dabei will der Bund als Vorbild voranleuchten und eine Milliarde einsparen bei den Beamten. Wo genau, steht noch nicht fest. Nur dass es eine Milliarde sein soll.

Was dem gemeinen Bürger die Mehrwertsteuer-Erhöhung bringen soll: "Wir beenden damit ein Leben von der Substanz."

12:10 Uhr: Betriebstemperatur ist nun erreicht, Pathos will sie nicht und kann sie nicht. Aber frech ist sie: "Das geht auch ohne sie, Frau Künast", lobt sie die Neuordnung im Zuckerstreit und lacht. Künast schüttelt den Kopf und senkt den Daumen.

Vom Zucker-Joke nach Europa: Allgemeinplätze, erste Schwätzchen auf der Regierungsbank - ein noch sehr gewöhnungsbedürftiger Anblick. Wolfgang Schäuble trommelt ein wenig mit den Fingern. Silbermatte Steinmeier guckt diplomatisch bedeutend, möglicherweise auch jet-gelagt. Michael Küss-die-Hand-gnä-Frau Glos schwätzt, Tiefensee ist in irgendwelchen Tiefen versunken, sitzt die gesamte Zeit über gleich schräg in seinem Stuhl.

Merkel inzwischen wieder bei dicken Brettern angelangt. Etwa dem EU-Beitritt der Türkei. Ergebnis: offen. Schröderlinie: Gerade noch gestreift.

Ganz anders beim Kampf gegen den Terror: Innere Sicherheit wird wohl nicht das Problemfeld dieser Koalition. Diese Koalition gab's ja auch schon ein paar Jahre.

Und immr wieder: Europäische Zusammenarbeit, auch die Nato-Kooperation sieht sie in diesem Kontext.

Und was verbindet uns mit den USA? Die Menschenrechte. Deshalb will sie Ehrlichkeit und Geschäft im internationalen Handel verbinden, aber sich den Mund nicht verbieten lassen.

Weiter Außenpolitik: Iran wird gegeißelt für die Äußerungen gegenüber Israel, im Irak soll's weiter gehen wie bisher mit dem deutschen Engagement. Und so hakt sie eine Weltgegend nach der anderen ab.

12:25 Uhr Weiter im Pflichtprogramm: Die Bundeswehr kriegt ihren Dank, bei der Wehrpflicht soll's bleiben. Merkel zeigt Interesse an einem Sitz im UN-Sicherheitsrat, weiß aber: "Die Reform geht weit darüber hinaus."

Mit Gestaltungskraft der Politik will sie den Menschen die Angst vor der Globalisierung nehmen. Die nämlich glaubten, dagegen könne die Politik gar nichts mehr ausrichten. Wie das gehen soll? "Die Probleme ereilen uns im Inland, wenn wir sie nicht im Ausland einer Lösung zuführen." Aber welcher?

So: Wir gehen viele kleine Schritte, genau so machen wir das. Wie das Internet wolle sie sein, diese Regierung, dieses Erfolgsmodell aus lauter kleinen, aber vernetzten Einheiten. Sie verpricht: "Wir werden eine Regierung der Taten sein."

Deutschland sei doch voller Chancen, leitet sie zum Finale über: "Deshalb fragen wir nicht zuerst, was nicht geht, sondern wir suchen nach dem was geht. Überraschen wir uns damit, was möglich ist."

Und: "Deutschland kann mehr, Deutschland kann es schaffen." Merkel, ab.

Wo ist Regierung? Wir gucken Erklärung!

12:35 Uhr Jetzt kommt Guido. Warum? Er ist der Chef der größten Oppositionspartei. Deren Bedeutung wachse mit der Größe der Regierungs-Koalition. Nicht nett will er dabei sein. Und Westerwelle fängt auch gleich an, befürchtet eine "Politik der Trippelschritte", eine "Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners". Hält ein SPD-Wahlplakat aus dem Sommer hoch und lästert über "zwei Prozent Merkel-Steuer und ein Prozent Münte-Steuer". Da applaudiert auch Leutheusser-Schnarrenberger endlich mal mehr als nur beflissen.

12.50 Uhr: Jetzt ist er bei Schwankungsreserve und Heuschrecken-Debatte angelangt, der Herr Oppositionsführer. Wir schwanken auch, ehrlich gesagt. Zappen aber nicht weg, wir sind ja im Dienst.

Er kommt zum Schluss, Halleluja! Will am Politikwechsel arbeiten, sich nicht mit dem Personalwechsel zufrieden geben. Meint, diese Merkelsche Regierungserklärung sei "für Deutschland nicht genug".

12.56 Uhr: Ex-Verteidigungsminister Struck spricht nun für die SPD. Gibt zu, dass es ihm noch schwer fällt, für Merkel zu klatschen. "Aber das werden wir noch lernen." Gibt aber gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck, dass das umgekehrt auch funktioniert. Tja, so ist das wohl in einer Großen Koalition. Oder heißt es Waffenstillstandsabkommen?

Merkels Rede nennt er einen "soliden Grundstock". Viel mehr will er dazu gar nicht sagen. Ein kurzer Hieb noch gegen Westerwelle, und schon hebt er ab Richtung Brandt/Kiesinger. Erklärt, warum die Große Koalition jetzt gut ist, Stichwort Bundesrat-Blockade. Gibt zu, dass der Koalitionsvertrag ein Kompromiss ist, klar. Spricht von einer "Arbeits-Regierung". Von "mag nicht sexy genug klingen". Von "solider Arbeit ohne Schleifchen". So kennen wir ihn, den nüchternen Schaffer Struck.

13.06 Uhr: Er entdeckt viele Bereiche, wo man sich einig ist in der Großen Koalition. Schmusekurs? Nicht wirklich. Eher insgesamt vorsichtig optimistisch. Spricht Kauder an. "Wenn er zuhört - und das muss er noch lernen..." Und Kauder lacht. Ein Haifischlachen. Was soll er auch sonst tun? Der Frosch ins Strucks Stimme hält sich ausdauernd. Das Wasserglas vor ihm ist schon leer. Lange hält die Stimme nicht mehr. Doch Struck kämpft. Es geht schließlich um Deutschland. Dann hat er's geschafft. Puh, gerade noch so.

13.11 Uhr: Von linksaußen eilt nun Gregor Gysi herbei. Fängt mit dem Krieg gegen den Terror an. Mit einem Ja zum Völkerrecht. Will die Macht der USA beschneiden. Klopft kräftig auf den Lieblingsfeind Bush ein. Der oberste Hemdknopf ist offen, der Mann verbraucht ja auch viel Luft. In Reihe zwei schaut der Mannschaftskollege Lafontaine streng und klatscht entschlossen bis energisch.

13.26 Uhr: Er lässt nicht viele gute Haare am Koalitionsvertrag, das war ja zu erwarten. Gerade als er auf den Status von Merkel als Frau abhebt, scharwenzelt deren Lieblingsminister Michi-küss-die-Hand-gnä-Frau um das Kanzlerin-Gestühl. Typisch.

Nun muss er ermahnt werden: Gysi redet schon zu lange. Was auch nicht weiter überrascht. Mit einem pfefferigen Abgang zieht er schließlich Leine.

13.31 Uhr: Nun wieder die CDU: Volker Kauder, wahrlich kein begnadeter Redner. Der wünscht der Kanzlerin erstmal Gottes Segen und liest in der Folge sehr konzentriert alle aufgeschriebenen Buchstaben ordentlich vom Blatt. Och nee, jetzt ist mal gut. Sorry Herr Kauder, langt erst mal. Außerdem macht gleich die Kantine zu. Mahlzeit!

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