Live-Reportage zum Mauerfall-Gedenktag:Töne, Steine und Tränen

Der Jahrestag des Mauerfalls geht in Berlin mit einem "Fest der Freiheit" zu Ende. Glückliche Menschen umarmen sich, Staatsgäste aus aller Welt betonen den Wert der Freiheit - und einige Tenöre meinen es zu gut. Von Th. Denkler, Berlin

Berlin am 20. Jahrestag des Mauerfalls: sueddeutsche.de-Korrespondent Thorsten Denkler berichtet vom "Fest der Freiheit" am Brandenburger Tor, bei der die Mauer symbolisch ein zweites Mal fällt. Zuvor war er an historischen Orten auf Spurensuche der friedlichen Revolution: An der sogenannten Bornholmer Brücke, wo Angela Merkel mit Staatsgästen die einstige Grenze überschreitet. An der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße, auf einer Trabi-Safari und in dem Saal, in dem Günter Schabowski am 9. November 1989 die Reisefreiheit verkündete. Er spricht mit Menschen - und schildert seine Eindrücke aus der deutschen Hauptstadt, auf die an diesem Montag die ganze Welt blickt.

Live-Reportage zum Mauerfall-Gedenktag: Bundeskanzlerin Angela Merkel (Mitte) durchquert gemeinsam mit Staatsgästen das Brandenburger Tor in Berlin.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (Mitte) durchquert gemeinsam mit Staatsgästen das Brandenburger Tor in Berlin.

(Foto: Foto: Reuters)

Eine Live-Reportage.

Station 5: Brandenburger Tor, das Fest der Freiheit

Am Ende des Festes ist so wie vor 20 Jahren: Schieben, drängeln, einige rufen "Wir sind das Volk" - aber das nur zum Spaß. Die Polizei hat die Wilhelmstraße gesperrt, die an den Abgeordnetenbüros entlang zum Pariser Platz führt. Die Menschenmassen aber, die sich nach diesem völlig verregneten "Fest der Freiheit" vom Brandenburger Tor zum Bahnhof Friedrichstraße schieben, müssen hier rüber, müssen auf die andere Seite.

Für Minuten stehen wieder Tausende dort, wo einst die Mauer die Stadt in Ost und West trennte, und wollen nur eines: Rüber auf die andere Seite der Straße, und als freie Menschen in einem freien Land mit der warmen und trockenen S-Bahn fahren. Tatsächlich bricht Jubel aus, als die Polizei die Sperre aufhebt, nachdem ein Konvoi mit Staatsgästen vorbeigerauscht ist.

Es ist ein bewegender Abend. Nicht wenige, die immer wieder Tränen in den Augen haben. Meist dann, wenn über die Großbildleinwände historische Aufnahmen flimmern: Menschen, die auf der Mauer tanzen, ein Außenminister, der von einem Prager Balkon aus Tausenden Menschen erklärt, er sei "gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute der Tag ihrer Ausreise...".

Tränen und Jubel auch, als die Macher des Tages ihren Domino-Day feiern. Am Ende liegen alle 1000 Steine, die über 15.000 Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Welt bemalt und gestaltet haben, am Boden.

In drei Etappen sind sie gefallen. Damit zwischendurch US-Rockstar Jon Bon Jovi noch singen und ein Horde Tenöre die Marius-Müller-Westernhagen-Hymne "Freiheit" zertrampeln konnte. Auch ein paar Bürgerrechtler dürfen sich von ZDF-Moderator Thomas Gottschalk befragen lassen. "Nehmt Euch die Freiheit", fordert die Malerin Katrin Hattenauer, die wegen eines regimefeindlichen Plakates im Stasi-Knast gelandet war. Sie meint die jungen Menschen, die die Mauer nicht erlebt haben.

Sie alle sind gekommen: Die Mächtigen von heute, die Mächtigen von damals. Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der britische Premier Gordon Brown und der russische Präsident Dmitrij Medwedjew ebenso wie Ex-Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow und der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher. US-Präsident Barack Obama grüßt die Festgäste per Video-Botschaft. Seine Außenministerin Hillary Clinton darf sich von den Berlinern an seiner Stelle wie ein Star bejubeln lassen.

Sie wird ebenso gefeiert wie der ewige Held der Berliner, Michail Gorbatschow ("Gorbi! Gorbi!"), und der einstige Führer der polnischen Solidarnosc, Lech Walesa, der mal wieder davon abrät, den Politikern all zu viel Glauben zu schenken. Er hat sich stets geweigert, so wie die anderen Politiker zu werden - selbst als er Präsident seines Landes war. Was ihn letztlich das Amt gekostet hat.

Kampf um die Freiheit

Die Botschaft aller Staatsgäste an diesem Abend ist: Um die Freiheit muss man immer wieder kämpfen. "Freiheit entsteht nicht von selbst. Freiheit muss erkämpft werden", sagt Kanzlerin Merkel. "Wir haben es in der Hand, auch die Grenzen unserer Zeit zu überwinden." US-Präsident Barack Obama fordert in seiner Botschaft: "Lassen Sie uns das Licht der Freiheit auch in den dunkelsten Nächten der Tyrannei aufrecht erhalten. Glauben wir an die Freiheit."

Und auch Russlands Präsident erklärt: "Wir alle hoffen, dass die Konfrontation eine Sache der Vergangenheit ist."

Der Abend begann ernst mit Daniel Barenboims Berliner Staatskapelle und endet mit einem Feuerwerk über dem Brandenburger Tor. Menschen liegen sich in den Armen, erinnern sich, freuen sich. Ein gelungener Tag, der so zu Ende geht. In fünf Jahren gibt es das nächste Fest.

Station 4: Mit Mischa zur Bornholmer Straße

Station 4: Bornholmer Straße

Interaktive Grafik Bitte klicken Sie auf das Bild, um die Grafik aufzurufen: 20 jahre Mauerfall

Mischa heißt der Taxi-Fahrer. Ohne ihn geht es nicht, die S-Bahn-Station Bornholmer Straße ist heute gesperrt. Wegen der Staatsgäste. Kanzlerin Angela Merkel und die ehemaligen Präsidenten Polens und der Sowjetunion, Lech Walesa und Michael Gorbatschow, gehen gemeinsam über die Bösebrücke, auch Bornholmer Brücke genannt. Darum ist alles dicht. Wegen der Sicherheit.

Mischa war am Tag des Mauerfalls schon in Berlin, in Ostberlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Er war der Fahrer des damaligen jugoslawischen Botschafter in der DDR. Die Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße war sein ständiger Übergangspunkt in den Westen, es gab hier eine spezielle Schleuse für Diplomaten. "In einer Minute" sei er damals von Ost nach West gekommen, sagt er, und hebt den Zeigefinger. Andere haben ihr Leben darauf gewartet.

Im Video: Bundeskanzlerin Merkel geht am 20. Jahrestag des Mauerfalls noch einmal über den ehemaligen Grenzübergang an der Bornholmer Strasse..

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Mischa fährt so schnell es geht. Dichter Verkehr, Nieselregen. Die Berliner scheinen heute kollektiv zur gleichen Zeit ins Auto gestiegen zu sein. Merkel und ihre Gäste werden schon weg sein.

Angekommen. An der roten Ampel geht es links zur Bornholmer Brücke. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer läuft vorbei, schaut sich suchend nach einem freien Taxi um. Mischa übernimmt ihn. Jetzt sitzen zwei im Taxi, die sich ihre Geschichten erzählen können.

Auf der Brücke stehen die Menschen noch in Trauben zwischen den Stahlstreben und an den Absperrgittern. Vor ihnen alle paar Meter ein Polizist. Die ganze Brücke entlang, wie eine Mauer. Damit keiner rüber kommt, auf die andere Seite. Merkwürdiges Bild. Das war vor 20 Jahren ähnlich. Diesmal aber ist der Weg von Ost nach West frei. Nur die andere Straßenseite bleibt gesperrt.

Gorbatschow, Walesa und Merkel sind tatsächlich schon weg. Dafür steht Klaus Wowereit noch da, schüttelt Hände, bleibt immer wieder stehen, damit die Menschen Fotos machen können. Wowereit alleine, Wowereit mit einem Unbekannten, ein anderer Unbekannter knipst.

Der Regierende Bürgermeister beugt sich zu einem Mann hinunter, dessen weiße Haare wie Wolkenberge unter seiner Mütze hervorquellen. "Was sehen Sie denn so fröstelnd aus?", fragt er ihn so laut, dass es auch die hören, die weiter hinten zwischen den Stahlstreben der Brücke stehen. "Da spricht alle Welt von Klimaerwärmung und Sie frieren. Na so was!" Wowereit lacht. Sonst niemand. Es ist ein Tag der Freude, ja, aber wohl doch kein Tag für schlechte Witze.

Hinter Wowereit stehen großformatige Fotos von der Nacht, als hier der erste Grenzübergang von den Bürger der DDR hinweggefegt wurde. Mischa, der Chauffeur der jugoslawischen Botschaft hat damals noch in der Nacht ein Fernsehteam aus Belgrad durch Berlin kutschiert. Nichtsahnend, was wohl aus ihm werden würde. Heute gibt es keinen jugoslawischen Botschafter mehr. Es gibt kein Jugoslawien mehr.

Ist der heutige Taxifahrer zufrieden mit dem Lauf der Geschichte? Mischa zögert keine Sekunde, als er knapp "Ja" sagt. Dann setzt er nach einer Pause nach: "Heute", sagt er, "heute bin ich frei."

Station 3: Als Schabowski die Mauer zerstammelte

Installation Ulrich Schäfer

Die einzige Erinnerung an die historische Pressekonferenz: eine Installation von Ulrich Schäfer

(Foto: Foto: Thorsten Denkler)

Station 3: Der Saal, in dem Schabowski die Reisefreiheit verkündete

Es gibt Orte der Wende, die hat die Geschichte hinweggespült. Zum Beispiel den Saal, in dem Günther Schabowski mehr versehentlich als gewollt am Abend des 9. November 1989 die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verkündete. Holzvertäfelte Wände, auf einem Podest eine lange Reihe mit Tischen. In der Mitte Schabowski, vor sich eine Phalanx von Mikrofonen, deren Kabel wie Spaghetti von seinem Tisch hinunterhängen zu den Journalisten in der vollbesetzten Pressekonferenz. So sah er damals aus, der Ort, an dem der 9. November als Tag des Mauerfalls seinen Anfang nahm.

20 Jahre minus drei Stunden später. Das Internationale Pressezentrum der DDR ist heute ein Teil des Bundesministeriums für Justiz. Nichts ist erhalten. Eine Installation des Künstlers Ulrich Schäfer ist der einzige wahrnehmbare Hinweis auf die historische Bedeutung. Fünf Reihen à sechs Stühle auf einer schiefen Betonebene.

Sie sind einem Flachbildfernseher an der Wand zugewandt, auf dem in einer Endlosschleife Meer und die Sonne am Horizont gezeigt werden. Die Stühle stehen für die Pressekonferenz, die schiefe Ebene für die Verhältnisse, die an diesem Tag ins Wanken kamen. Und die Fernsehbilder für die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit.

Die Installation füllt das ehemalige Eingangsportal des internationalen Pressezentrums aus. Sie ist von der Straße aus durch die gläserne Front zu sehen. Ein Hinweisschild auf Sinn und Zweck des Kunstwerkes, mehr erinnert nicht an Schabowskis gestammeltes: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich!"

Die Pressekonferenz beginnt damals um 18 Uhr, parallel zur Sitzung des Zentralkomitees der DDR-Einheitspartei SED. Keiner ahnt, was der Schabowski-Satz auslösen würde. Im ZK hat nicht mal einer Kenntnis davon, das er überhaupt gefallen war.

Gustav-Heinemann-Saal, steht auf der Glastür des modernen runden Konferenzsaals. Heinemann war Justizminister unter Kanzler Willy Brandt, später Bundespräsident. Sein Name steht an der Stelle im verschachtelten Gebäude des Justizministeriums, an dem Schabowski einst seinen Zettel verlas, unwissend, was er da tat.

Rote Stühle, helles Holzparkett. "Sehr gute Akustik", erklärt der Mann von der Pressestelle des Hauses. Schabowskis Saal, er hätte nicht in das neue Nutzungskonzept gepasst, seine Erhaltung wäre zu teuer gewesen. Und schön war er auch nicht gerade.

Das war es. Mehr ist hier nicht zu sehen an einem der wichtigsten Orte der deutschen Wiedervereinigung. Dafür gibt es am Abend ein Feuerwerk am Brandenburger Tor. Deutsches Gedenken.

Station 2: Trabi-Safari

Audio Slideshow Bitte klicken Sie auf das Bild, um die Slideshow zu starten: Regina Schmeken - Mauerfall

Station 2: Trabi-Safari

Der Schlüssel steckt schon. Umdrehen, der Motor des Zweitakters rüttelt sich, hustet, sprotzt, er springt nicht an. Klar, der Benzinhahn. Aufdrehen. Und den Choke. Ziehen. Dann Zündung. Der Motor röchelt, stottert und läuft.

Zehn Jahre und länger mussten die Menschen in der DDR warten, bis ihr bestellter Trabant geliefert wurde. Manche sagten auch "Rennpappe" zu dem Gefährt, die allermeisten nannten es schlicht "Trabi". 20 Jahre nach dem Mauerfall fahren sie immer noch - in Berlin manchmal sogar Kolonne.

Das ist dann eine Trabi-Safari, eines der touristischen Angebote der Hauptstadt: eine Spaß-Fahrt zu den Mauerresten der einst geteilten Stadt. Der Tourguide trägt ein schwarzes Fellmützenimitat mit Hammer und Sichel auf der Frontseite auf dem Kopf. Dienstkleidung offenbar. Er gibt die wesentlichen Anweisungen: Anschnallen, nicht bei Rot über die Ampel fahren. Es kann losgehen.

Im ersten Wagen sitzt der Tourguide, per Funkempfang ist er in den nachfolgenden Wagen zu hören. Aus den Bordlautsprechern scheppern die wesentlichen Mauerdaten, untermalt vom knarzenden Sound des vor sich hin röchelnden Zweitaktmotors. "Klingt wie ein Opel", bemerkt der Italiener im Fond. "Besser", kommt es von der Schwedin auf dem Beifahrersitz zurück.

Es geht vorbei am Potsdamer Platz, am Hauptbahnhof. Nachwendebauten. Die Teilnehmer erfahren, wann sie gebaut wurden und wie viele Geschäfte darin sind. Und auf wie vielen Ebenen am Hauptbahnhof Züge abfahren. Interessante Einsichten bei einem Blick aus einem verregneten Trabifenster.

Hinter der nächsten Hauswand taucht plötzlich ein alter DDR-Wachturm auf. Der Turm ist heute Gedenkstätte. Er soll erinnern an Günter Litfin, dem ersten Opfer der Berliner Mauer. Er wurde am 24. August 1961 erschossen - elf Tage, nachdem die DDR-Führung die Grenze dichtgemacht hat.

Alles aussteigen, Fotos machen. Vom Turm. Von den Trabis. Man könnte raufgehen auf den Turm. Mehr über Günter Litfin erfahren.

Doch der Tourguide kommt: "Interesse, einen Blick auf den Trabi-Motor zu werfen?" Klar. Die Haube öffnet sich. Der Guide zeigt auf den Messstab. Damit wird der Tankfüllstand gemessen. Hinten ist eine Einprägung am Rahmen, der allen Gerüchten zum Trotz aus Stahl gefertigt wurde. 08/89 steht da. Baujahr August 1989. Der Trabant hier ist keine drei Monate vor dem Mauerfall gefertigt worden. "Der war State of the Art damals", sagt der Guide.

Günter Litfin? Muss warten. Die Zeit drängt. Mehr denn je.

Im Video: In Berlin haben die Feiern zu 20 Jahre Mauerfall begonnen. Zahlreiche Schaulustige fanden sich schon am Morgen entlang der ehemaligen Grenzlinie ein.

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Station 1: Mauergedenkstätte

Live-Reportage zum Mauerfall-Gedenktag: So sieht es heute aus: Gustav-Heinemann-Saal im Justizministerium.

So sieht es heute aus: Gustav-Heinemann-Saal im Justizministerium.

(Foto: Foto: Thorsten Denkler)

Station 1: Bernauer Straße, Mauergedenkstätte, am frühen Morgen

Ein Stück Wiese. Wer vor 20 Jahren an dieser Stelle gestanden hätte, wäre erschossen worden. Hier, mitten auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Ein paar Meter weiter steht sie noch. Ein Stückchen Mauer nur. Ein Überrest nur, eingezwängt zwischen zwei rostigen Stahlwänden. Doppelt so hoch, genauso dick wie die Mauer aus grauem Beton, die die Menschen in der DDR einst eingeschlossen hat.

Touristenbusse landen an. Einer nach dem anderen. Rote, weiße, gelbe Busse. Sie entlassen Trauben von Menschen. Einige haben Rosen in der Hand, andere bekommen sie von Ordnern in die Hand gedrückt. Fernsehreporter stehen parat, Stimmen zum Denktag einzufangen. Fotoapparate klicken, Menschen lachen. Passt irgendwie nicht zum trüben Berliner Herbstwetter.

Die, die sich erinnern können, die unter der Mauer gelitten haben, sie lassen sich an ihren Gesichtern erkennen. Es sind ernste Gesichter. Ein Mischung aus Bedrückung und Freude. Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster, das vor 20 Jahren noch zum Todesstreifen gehörte. Eines der ernsten Gesichter schaut ihr nach. Die inzwischen 20-jährige Normalität ohne Mauer. Sie ist eben nicht normal.

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