Live-Reportage:"Ich sehe die Traurigkeit in den Gesichtern" - die 24 Stunden nach der Wahl

A Turkish woman rests on the stairs of a typical pub in Marxloh, a suburb of the Social Democratic party SPD former stronghold city Duisburg known for its steel workers in Duisburg

Duisburg gilt als SPD-Hochburg, sein Stadtteil Marxloh als sozialer Brennpunkt.

(Foto: REUTERS)

Was denken die Deutschen über das Wahlergebnis? Auf dem Oktoberfest, in Duisburg-Marxloh, an einer Hamburger Schule und in Bitterfeld? Unsere Live-Reportage fängt in der ganzen Republik die Stimmung am Tag nach der Wahl ein.

Von SZ-Autoren

Seit Sonntagabend 18 Uhr steht fest: Die Politik in Deutschland hat sich grundlegend verändert. Aber während in den Parteizentralen, Fernsehstudios und Redaktionen die politische Landkarte neu vermessen wird, geht das Leben weiter. Die Menschen arbeiten, feiern, lernen. Wir wollten wissen: Wie fühlt sich Deutschland nach der Wahl? Zehn SZ-Reporter sind in den 24 Stunden danach in der ganzen Republik unterwegs, um das herauszufinden. Ihre Eindrücke beschreiben sie in dieser Live-Reportage.

Ausklang in Bitterfeld-Wolfen

"Das muss man gesehen haben", sagt Werner Rienäcker voller Begeisterung. Ein paar Schritte nur, dann fällt der Blick auf die Goitzsche. Wo einst ein riesiger Braunkohletagebau im Boden klaffte, ist ein riesiges Erholungsgebiet entstanden, mit einem kleinen Hafen. Dort unten an der Anlegestelle liegt das kleine Segelboot von Rienäcker. Hier im Hafen von Bitterfeld-Wolfen ist der 64-jährige Rentner am liebsten. Hier war er vor der Wahl und hierher kommt er auch nach der Wahl bei gutem Wetter gerne.

Wie kann man unzufrieden sein in diesem Land? In dieser Stadt, bei diesem Anblick? Das fragt Rienäcker sich seit Jahren. Die Stadt Bitterfeld-Wolfen, in Sachsen-Anhalt gelegen, gilt als eine der AfD-Hochburgen. Bei der Wahl stimmten immerhin 22 Prozent für die Rechtspopulisten. Natürlich, er mache sich auch so seine Gedanken über die Flüchtlingskrise, wolle auch nicht, dass jeder ins Land gelangt, sagt der Rentner. Aber deswegen gleich AfD wählen? Das würde Rienäcker nicht in den Sinn kommen.

Aus seiner Sicht bietet diese Partei keine Lösungen an, sondern zeige sich überfordert von der politischen Arbeit. Das sehe man doch im Landtag. Rienäcker ist bekennender FDP-Wähler, war er schon immer.

Mit dem Einzug der Liberalen hatte er gerechnet, nicht aber mit diesem Ergebnis. Zehn Prozent! Das war schon ein Grund, anzustoßen. Rienäcker ist froh, dass die große Koalition nun Geschichte ist. "Da wurde nur noch reagiert, nicht regiert", sagt er. Jetzt hofft er auf Jamaika. Von Antonie Rietzschel

Montagnachmittag in Duisburg-Marxloh

Vier Hände schalten gleichzeitig auf Abwehr, wedeln mit erhobenem Zeigefinger durch die Luft. "Nein, keine Politik", mahnt der ältere der Türken am Tisch, "das gibt nur Ärger!" Die beiden Männer sitzen draußen hinter der Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh. Sie trinken Tee, reden, wollen ihre Ruhe. Drinnen im Café dieselbe Reaktion. "Nix" habe man zur Wahl, zu Merkel oder Schulz zu sagen. "Gar nix", wiederholt der Mann mit dem grauen Schnauzer im blauen Jackett, "das ist Sache von Euch Deutschen." Seine drei Kumpel am Tisch nicken. Und schweigen. Nur das Ergebnis der AfD, die in manchen Wahllokalen hier im Duisburger Norden auf 25 bis 30 Prozent kam, lockert dem jungen Kerl mit der weißen Baseball-Kappe die Zunge: "Ist doch normal hier", sagt er, ehe er unter den strafenden Blicken seiner Landsleute wieder verstummt.

Die Muslime hier wollen nicht reden. Denn sie hätten, so erzählt einer anonym, so ihre Erfahrungen gemacht: Nach dem Referendum im April, als viele Türken in Deutschland für die umstrittene Verfassungsreform von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gestimmt hatten, hätten tagelang Journalisten auf dem Parkplatz an der Warbruckstraße gestanden und "böse Fragen" gestellt. Die Moschee gehört zum Ditib-Verband, der wiederum dem Präsidium für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei untersteht. "Wenn ich wähle, wähle ich Erdogan" sagt draußen vor dem Eingang ein Muslim.

Marxloh gilt als "sozialer Brennpunkt", drei Fünftel der knapp 20 000 Bewohner sind "Menschen mit Migrationshintergrund". Türken leben hier seit Jahrzehnten, die meisten Kebap-Buden, Pizza-Shops, Brautkleid-Geschäfte oder Gemüseläden auf der Weseler Straße, der Verkehrsader durchs Viertel, gehören ihnen. Dann kamen die Bulgaren und Rumänen, die Roma und Sinti, zuletzt die Syrer.

"Seit zwei, drei Jahren wird mehr geklaut", bezeugt der türkische Einzelhändler hinter der Kasse im Eckladen. Jetzt hängen Videokameras unter der Decke. Auch er redet nur namenlos. Die Wahl? "Ich weiß nichts - hat Merkel gewonnen?" Aha. Sein Gesicht verfinstert sich: "Und was ist mit den Rechten?" Die Nachricht von 13 Prozent im gesamten Land wie in seiner Heimatstadt Duisburg erschreckt ihn: "Das heißt: Deutschland bleibt Deutschland und Ausländer raus?"

Der Erfolg der AfD schürt Sorgen, bei den Türken wie unter Muslimen. Wenngleich viele die Gründe verstehen. "Die Leute sind nicht rechts - die sind sauer", glaubt Mustafa Kurt, "ich versteh' die." Er steht auf dem Johannismarkt, hilft bei einer Autoreparatur. Der 47-jährige Sohn türkischer Einwanderer hat längst einen deutschen Pass. Der Muslim hat SPD gewählt, obwohl er glaubt, "dass die Merkel vielleicht die Einzige ist, die die deutschen Probleme lösen kann." Kurt schult gerade um, er will Altenpfleger werden. "Ich rede viel mit den Menschen", sagt er, es sei die Hoffnungslosigkeit, die der AfD die Wähler zutreibe: "Ich sehe die Traurigkeit in den Gesichtern - bei allen, bei Türken und Deutschen." Seit Jahren, so sagt Kurt, ändere sich nichts in Marxloh: "Zu viele Arme, zu wenig Jobs." Kein Wunder, das da niemand mehr an die Politik glaube: "Ich auch nicht." Von Christian Wernicke

Montagmittag: am Arbeitsamt und vor dem VW-Werk

14 Uhr, Arbeitsamt München

Am Münchner Arbeitsamt trifft man an diesem Tag zufälligerweise gleich mehrere Menschen, die nicht wählen waren. Ein Mann am Schalter der Berufsinformation dreht sich kurz um, schnaubt und sagt dann: "Ich sage dazu nichts, ich bin Österreicher." Seine Kollegin schüttelt genervt den Kopf. Nein, das Wahlergebnis möchte man nicht kommentieren.

Die Finnin Matleena, die eigentlich anders heißt, aber ihren Namen nicht in einem Artikel lesen möchte, schiebt ihre kleine Tochter im Sportbuggy durchs Foyer. "Ich habe nicht gewählt, ich bin ja nicht wahlberechtigt." Aber sie hat vom Wahlergebnis gehört - und gleich an ihre Heimat gedacht. "In Finnland ist vor zwei Jahren genau das Gleiche passiert. Damals waren alle geschockt, weil keiner damit wirklich gerechnet hatte."

Die rechtspopulistische Partei Perussuomalaiset ("Die Finnen") wurde bei der Parlamentswahl 2015 drittstärkste Kraft. Jetzt herrsche in ihrem Heimatland politischer Stillstand. "So empfinden es jedenfalls viele Finnen. Die Parteien blockieren sich gegenseitig, es geht kaum etwas voran", erzählt Matleena.

Da unterbricht eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur: "Keine Befragungen hier." Das Gespräch wird nach draußen verlegt, aber auch auf dem Platz vor dem großem Gebäude darf das Interview nicht fortgesetzt werden. Der Bürgersteig ist zum Glück gleich nebenan.

Seit zehn Jahren lebt Matleena in München, die 29-Jährige fühlt sich hier sehr wohl. Aber: "Als Ausländer denkt man natürlich erst mal: Wie wird das die nächsten Jahre werden?" Eine Verwandte von ihr lebt in England. Matleen erzählt, wie die nach dem Brexit mit Anfeindungen zu kämpfen hatte. "Ich bin gespannt, aber hier wird es hoffentlich nicht so krass werden. Die Münchner sind anders", sagt Matleena und verabschiedet sich mit ihrer Tochter Richtung Spielplatz. Von Jana Stegemann

VW-Werk für Nutzfahrzeuge in Hannover

VW-Werk für Nutzfahrzeuge in Hannover: Das Werk steht im Stadtteil Stöcken, nicht gerade dem schicksten Viertel der Stadt.

(Foto: dpa)

13.50 Uhr, Hannover-Stöcken

Im Hintergrund erheben sich die rot-braunen Backsteingebäude, davor steht Carola Dittmann. Es ist Schichtwechsel am großen VW-Werk in Hannover-Stöcken, ein paar Tausend Arbeiter strömen heraus, ein paar Tausend gehen hinein. Carola Dittmann hat kurz Halt gemacht, sie wirkt noch frisch, obwohl ihre Frühschicht um sechs Uhr begonnen hat. Sie mag Ende 40 sein, hat noch einige Jahre bis zur Rente. Auch sie bewegt, was sich am Sonntag in Deutschland abgespielt hat.

Ob sie mit dem starken Ergebnis der AfD gerechnet hat? Ein lang gezogenes "Neeeiiiin" kommt aus Dittmanns Mund. Den Angestellten bei VW wird traditionell eher eine Nähe zur SPD nachgesagt, trotzdem ist heute morgen am Band nicht das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten das große Thema gewesen. Eher die AfD. "Es war ja abzusehen, aber dass es so schlimm wird...", sagt Dittmann. Sie hat mit deutschnationalen Parolen und Stimmungsmache gegen Geflüchtete wenig am Hut, viele ihrer Kolleginnen und Kollegen auch nicht. Der "Schock" sei greifbar gewesen, sagt sie.

Natürlich hat Dittmann auch eine Meinung zur SPD. Das VW-Werk in Hannover steht im Stadtteil Stöcken, nicht gerade dem allerschicksten Viertel der Stadt. Den Wahlkreis hier gewinnt traditionell die SPD, vor zwölf Jahren mit mehr als 50 Prozent, diesmal sind es noch 35 Prozent, die der SPD-Spitzenkandidatin per Direktmandat in den Bundestag verhelfen. Den angekündigten Gang der Partei in die Opposition findet Dittmann "völlig in Ordnung", aus einfachem Grund: "Die machen sich sonst unglaubwürdig."

Die Krux daran ist natürlich, dass sich mit SPD und Linken in der Opposition in den kommenden vier Jahren beim für Carola Dittmann wichtigsten Thema nicht viel tun wird: bei der Rente. Es ist eine Urangst auch bei den VW-Mitarbeitern, dass nach langem Arbeitsleben im Alter zu wenig übrig sein könnte. "Wer 45 Jahre gearbeitet hat, muss doch in der Rente davon leben können", sagt Dittmann, ein bisschen wütend. Sie selbst mag nicht jammern, vielen gehe es sicher schlechter. "Wenn ich da an eine einfache Verkäuferin denke...", sagt sie, beendet den Satz lieber nicht.

Für die SPD hat sie eine Hoffnung: dass sich die Partei in der Opposition erholt. Und die Dinge danach richtig anpackt. Ob dies mit Martin Schulz als Parteivorsitzendem möglich ist? "Schwiiierig", dehnt Dittmann das Wort wieder, gibt sich die Antwort, ob Schulz bleiben soll, dann aber selbst: "Geht eigentlich nicht, so wie der eine übergebraten gekriegt hat." Dann verschwindet sie auf dem riesigen Parkplatz vor dem Werk zum Auto. Von Carsten Scheele

Der Montagmorgen: in einer Hamburger Schule und im Bioladen in Stuttgart

11.05 Uhr, Hamburg-Pöseldorf

Das Wilhelm-Gymnasium liegt friedlich eingebettet in der gediegenen Häuser-Landschaft des Hamburger Stadtteils Pöseldorf. Auf der Sonnenseite des Lebens, kann man sagen, denn die sozialen Brennpunkte der Hansestadt sind fern. Die Schule steht für einen ganzheitlichen Bildungsansatz mit Latein als Pflichtfach, Musikklassen sowie Ruder-Unterricht auf der Alster.

Die kleine Diskussionsrunde, die sich in einem Raum im ersten Stock um einen Tisch platziert hat, besteht aus Schülern, die längst verstanden haben, dass es ihnen gut geht in Deutschland. Daphne, Natalie, Hannah, Matin, Michel, Nikhil und Linn blicken aus klugen Augen auf jenes Wahlergebnis, das sie nicht beeinflussen konnten, weil sie noch nicht 18 Jahre alt sind.

Sie besuchen alle die zwölfte Klasse und haben auf dem Weg zum Abitur das sogenannte PGW-Profil gewählt. PGW steht für "Politik, Gesellschaft, Wirtschaft", und es wird schnell klar, dass die Schüler die demokratische Landschaft mit klarem Kopf verfolgen. Das AfD-Ergebnis bedrückt sie, aber sie wollen die Gründe nicht unterschätzen, die sozialen Schieflagen, die andere Menschen bedrängen. "Ich kann verstehen, dass Leute unzufrieden sind", sagt Linn, "was ich nicht verstehen kann, ist, dass man sich deshalb einer Partei zuwendet, die ganz offen sexistische und rassistische Positionen vertritt."

Über Flüchtlinge reden die Schüler auch, allerdings befassen sie sich nicht mit der Frage, wie man sie draußen lassen könnte. "Integration ist wichtig", sagt Daphne, und bald kreisen um den Tisch die Gedanken, wie Integration gelingen kann. Grundsätzlich finden sie, dass im Wahlkampf zu viel über die AfD geredet wurde.

Ihnen sind andere Themen wichtiger: Bildung und Umwelt - Zukunftsthemen eben. Das ergab auch eine schulinterne Juniorwahl. "Da hatten FDP und Grüne übermäßig viele Stimmen", sagt Michel. Und gerade deshalb sehen die Schüler das Wahlergebnis auch als Chance. "Kompliziert und spannend" nennt Nikhil die bevorstehenden Jamaika-Verhandlungen. Ihre Parteien sind dabei, sie glauben, dass die neue Koalition gut für ihre Generation sein könnte. Von Thomas Hahn

Münchner Freiheit in München, 2016

Gäste sitzen im Forum an der "Münchner Freiheit" in Schwabing auf der Terrasse eines Cafes.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

9.45 Uhr, München, U-Bahnhof Münchner Freiheit

Es ist ein Nicht-Ort: der U-Bahnhof Münchner Freiheit. Viele Pendler huschen vorbei, holen sich noch schnell einen Kaffee, bevor sie in die U-Bahn springen. Niemand hält sich hier länger als ein paar Minuten auf. Niemand außer den Menschen hinter den Ladentheken.

Sabine Rodrian ist eine von ihnen. Der Eingang ihres Ladens ist von Postkartenständern umrahmt, links in der Ecke gibt's die Zeitungen und direkt hinter der 59-Jährigen die Tabakware. Rodrian betreibt den Kiosk "Zig News". Wie reagieren ihre Kunden auf die News von gestern Abend?

"Viele Stammkunden sind entsetzt", sagt Rodrian, das könne sie heute Morgen feststellen. Dass die AfD nicht nur in den Bundestag eingezogen, sondern drittstärkste Kraft geworden ist, das könnten viele kaum fassen - auch sie selbst nicht. "Gut, dass meine Eltern, die noch den Krieg mitbekommen haben, das nicht mehr erleben mussten", sagt sie zum Wahlergebnis der Rechtspopulisten.

Überhaupt betrachtet sie die Politik weniger aus der Perspektive der Kioskbesitzerin, sondern eher als Familienmensch. Als Mutter zweier Kinder seien ihr Themen wie Bildung oder Umwelt wichtiger als die Migrationspolitik. "Mein Sohn war in dem ersten Jahrgang, in dem auf G8 umgestellt wurde. Der hatte monatelang keine Schulbücher. Und wir - ein Land von über 80 Millionen - machen uns Sorgen darüber, die kleine Zahl von einer Million Flüchtlingen zu integrieren."

Ihre Kinder hat Sabine Rodrian allein großgezogen. Selbst in einer reichen Stadt wie München fand sie keinen Hortplatz. Sie musste mit der Arbeit aussetzen. Nun macht sie sich Gedanken wegen ihrer Rente. Auch das ein Thema, das ihr in den vergangenen Monaten zu kurz kam.

"Gerechtigkeit", das Wort des SPD-Wahlkampfes, "das war doch nur eine Blub-Blase." Immerhin etwas Gutes hat das Wahlergebnis in Rodrians Augen: "Früher habe ich die Bundestagsdebatten immer beim Bügeln geguckt, zuletzt war es mir zu langweilig, aber jetzt werde ich wieder einschalten."

Während des Gespräches kommen mehrere Kunden in das Pressefachgeschäft, die wenigsten kaufen tatsächlich Presseartikel. "Einmal Gauloises, rot, bitte" - Zigaretten statt Zeitung. Der eine oder andere verirrt sich aber doch in die hintere linke Ecke des Geschäfts. Kurze Nachfrage bei den Zeitungskäufern, die im Eilschritt zur U-Bahn rennen: "Was denken Sie beim Blick in die heutige Zeitung?"

"Das mit der AfD ist eine Katastrophe." - "Schlimm, dass die AfD eingezogen ist." - "Ich find's bedauerlich. Durch die AfD wird der Diskurs polemischer werden. Da ist ein Konsens weggebrochen." - "Ich bin viel zu verkatert, um diese Frage zu beantworten." Von Marco Wedig

Live-Reportage: Oliver Griebel hat lange überlegt, wen er diesmal wählen soll.

Oliver Griebel hat lange überlegt, wen er diesmal wählen soll.

(Foto: Josef Kelnberger)

Montag, 8.15 Uhr, Stuttgarter Westen

Oliver Griebel, 53, hat lange überlegt, wen er wählen soll. Als Person imponierte ihm der SPD-Kandidat Martin Schulz, deshalb machte er letztlich das Kreuz bei den Sozialdemokraten. Thematisch hat ihn, auch aus Gründen der eigenen Biografie, am meisten das "Bündnis Grundeinkommen" überzeugt, eine Ein-Themen-Partei, die - genau - das bedingungslose Grundeinkommen propagiert.

Griebels eigentliche politische Heimat sind die Grünen. Aber ach, die Kretschmann-Grünen: schwieriges Thema für die urgrüne Gemeinde hier im Stuttgarter Westen, einer alten grünen Bastion, wo Griebel an diesem Montagmorgen im Bioladen "Plattsalat" arbeitet.

Anlieferungen und Auslieferungen, es ist jede Menge zu tun. Ein riesiger Salatkopf an der Zufahrt zum Hinterhof weist den Weg zum Laden. Vor knapp zehn Jahren wurde "Plattsalat" 1998 als selbstverwaltete Verbraucherinitiative gegründet mit dem Ziel, auch sozial schwächeren Stuttgartern die Möglichkeit zu eröffnen, sich mit regionalen Produkten zu ernähren.

Griebel, Vater von zwei kleinen Kindern, arbeitet 14 bis 16 Stunden pro Woche hier und verdient sein Geld ansonsten als Nachhilfelehrer. Er hat auch schon als Taxifahrer gearbeitet und ein Buch über Gott geschrieben.

Im gentrifizierten Stuttgarter Westen leben mittlerweile viele Vertreter der "Fraktion Edel-Öko", wie Griebel das nennt, Kretschmann-pragmatische Grüne, die dem Direktkandidaten Cem Özdemir ein Wahlergebnis von fast 30 Prozent und beinahe das Direktmandat bescherten. Griebel meint "Edel-Öko" nicht abschätzig, eher beschreibend. "Die Weltpremiere" eines grünen Ministerpräsidenten habe auch ihm imponiert.

Aber es seien zu wenig ökologische Impulse gekommen. Die Luftverschmutzung etwa sei die grün geführte Regierung nicht entschieden genug angegangen. Und Kretschmanns autofreundliche Haltung im Dieselskandal hat Griebels Frau, eine Sozialarbeiterin, so empört, dass sie schwor: Sie werde niemals mehr Kretschmann wählen.

Was Griebel nun von den Grünen im Berlin erwartet? Sein Wunsch ist ganz eindeutig: "Jamaika, aber möglichst grün". Wenigstens zwei, drei grüne "Essentials" müssten sie in dieser Koalition durchsetzen. Zum Beispiel eine wirkliche Wende in der Agrarpolitik. Von Josef Kelnberger

Der Sonntagabend: Taxistand vor dem Adenauer-Haus und Handy-Leuchten auf der Wiesn

Taxi

Taxi-Stand in Berlin

(Foto: dpa)

21.30 Uhr, Berlin, vor dem Konrad-Adenauer-Haus

Javad findet diesen Wahlsonntag ziemlich erfolgreich. Der untersetzte 65-Jährige hat in seinem Taxi auf der rechten Spur angehalten, gleich neben den TV-Übertragungswagen, dahinter glänzt im Berliner Nieselregen die Fassade der CDU-Parteizentrale. Der Deutsch-Iraner ist erst seit wenigen Stunden im Dienst und hat schon deutlich mehr Geld verdient als gestern, am Samstag, erzählt er. Bald ist Feierabend, aber davor würde er vor der CDU-Zentrale noch gerne Fahrgäste aufsammeln. Gerade aber kommt niemand aus dem Besucherausgang. Stattdessen ist Jubel zu hören.

Dafür, dass die Union gerade eine krachende Wahlniederlage zu verdauen hat, ist die Stimmung in und vor der CDU-Zentrale überraschend gelöst. Findet auch Javad. Vorhin erst hat er einen Herrn vor dem Konrad-Adenauer-Haus eingesammelt. "Der hatte gute Laune", erzählt Javad. "Der hat die ganze Zeit mit seiner Frau und den Kindern telefoniert und das Gefühl vermittelt, dass alles in Ordnung ist." Davor sei sogar einer bei ihm mitgefahren, der habe "Wir haben gewonnen!" geschrien.

Der gebürtige Iraner, der seinen vollen Namen lieber nicht im Internet lesen möchte, lebt seit den späten 1970ern in Berlin. Damals studierte er Geologie mit Schwerpunkt Erdöl und Erdgas. Heute hat sich einiges geändert. Das Display seines Autos zeigt an: Batterie voll. Javad fährt einen Hybrid, aus Überzeugung, wie er sagt. Für Politik habe er sich schon immer interessiert, in den vergangenen Jahren zunehmend für Klima- und Umweltthemen. Deshalb hat er heute auch für die Grünen gestimmt. Und nicht für Martin Schulz - obwohl er viele Jahre lang eher den Sozialdemokraten zugeneigt war.

Im Autoradio hat er schon den ganzen Abend über die Hochrechnungen verfolgt. Dass ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen die wahrscheinlichste Koalition ist, bereitet ihm Bauchschmerzen. "In meinen Augen ist das keine gute Lösung. Die werden doch nur streiten." Überhaupt, die FDP: Von der Wahlparty der Liberalen habe er vorhin einen Fahrgast mitgenommen. "Der war relaxed und gut drauf, der hat den Anschein gemacht, als wäre er was in der Partei." Warum der mutmaßliche FDP-Mann aber ausgerechnet zur Wahlparty der CDU gefahren werden wollte, kann Javad sich auch nicht recht erklären. Von Jakob Schulz

Uwe Nicolaus mit der Septemberausgabe von „Strassenfeger“, einer Berliner Obdachlosenzeitung.

Uwe Nicolaus mit der Septemberausgabe von „Strassenfeger“, einer Berliner Obdachlosenzeitung. Uwe Nicolaus mit der Septemberausgabe von „Strassenfeger“, einer Berliner Obdachlosenzeitung.

(Foto: Julian Freitag)

20 Uhr, Berlin, U-Bahnhof Friedrichstraße

In Berlin-Mitte drängen sich die Menschen am Bahnsteig, der nächste Zug soll gleich einfahren, draußen regnet es. Mitten durch die Menge schiebt sich Uwe Nicolaus. "Guten Abend, haben Sie vielleicht Interesse an einer Obdachlosenzeitung?", fragt der 48-Jährige. Eine junge Frau blickt kurz von ihrem Smartphone auf, schüttelt den Kopf. Der Nachbar reagiert gar nicht. "Einen schönen Abend noch", sagt Nicolaus und zieht weiter zum nächsten Wartenden. Dort hat er mehr Glück: Der Mann will zwar keine Zeitung haben, drückt dem Verkäufer aber einen Euro in die Hand.

An diesem Sonntag hat Uwe Nicolaus erst sehr spät mit dem Verkauf der Berliner Obdachlosenzeitung Strassenfeger begonnen. Die Friedrichstraße ist seine erste Station. Den restlichen Tag hat er in Suppenküchen verbracht, erzählt er. Im Norden von Berlin gab es Mittagessen, im Süden Proviant zum Mitnehmen für den Abend und Kuchen. Wählen war der Straßenzeitungsverkäufer nicht. "Ich habe das noch nie gemacht, hab' es immer abgelehnt", sagt Nicolaus. Er sei enttäuscht von der Politik, für Obdachlose werde viel zu wenig getan. Suppenküchen müssten schließen und Notunterkünfte hätten kürzere Öffnungszeiten, weil das Geld fehle. "Ich fühle mich vergessen."

Obwohl Nicolaus nicht wählen war, kennt er die Ergebnisse der ersten Hochrechnungen ganz genau. In der U-Bahn hat er sie sich angeschaut, sagt er. Den Einzug der AfD in den Bundestag kommentiert Nicolaus mit einem Schulterzucken. Die Konkurrenz mit osteuropäischen Bettlerbanden werde immer härter. Da sei es richtig, nicht jeden nach Deutschland lassen zu wollen. Trotzdem glaube er aber nicht, dass sich in Zukunft irgendetwas ändern werde.

Nach einer halben Stunde beendet Uwe Nicolaus seine Verkaufstour im U-Bahnhof Friedrichstraße. Er will weiter zu einer anderen Station, vielleicht einen festen Platz an einem Eingang suchen. Ob er beim nächsten Mal wählen wird? Das schließt er nicht aus. "Wenn wirklich mal mehr für Obdachlose getan wird, dann mach' ich das." Von Julian Freitag

Live-Reportage: Die Wahlergebnisse erreichen die Gäste auf dem Oktoberfest.

Die Wahlergebnisse erreichen die Gäste auf dem Oktoberfest.

18.01 Uhr, Theresienwiese, München

Jedes Zelt auf dem Oktoberfest hat seine eigene Choreografie. Erst tanzen und singen die Wiesngäste ("Viva Colonia, wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust ..."), dann ein Prosit, Krüge stoßen aneinander, klong, klong - und weiter geht's. In schöner Regelmäßigkeit. Denn das Bier muss fließen, Geld in die Kassen spülen. Doch an diesem Sonntag ist es ein kleines bisschen anders. Denn für einige Minuten wird der stete Fluss aus Gesang und Trinken unterbrochen. Es ist 18.01 Uhr. Die Band hat gerade eine letzte Strophe gespielt und geht in die Pause. Manche haben das nicht mitbekommen, stehen da noch immer, schunkeln Arm in Arm, grölen das Lied von vorne, als wollten sie die Band zurück auf die Bühne zwingen. Andere greifen in ihre Lederhosen, Trachtenjanker, Dirndl, als hätten sie es gemeinsam einstudiert: In diesem Moment kommen Tausende Pushnachrichten auf den Handys an, es vibriert und klingelt. Der Wahnsinn wird unterbrochen - durch das wichtigste politische Ereignis des Jahres.

Viele Zeltgäste blicken gebannt auf ihre Smartphones. Wo eben noch Whatsapp-Chats flimmerten, türmen sich nun farbige Balkendiagramme. Davor hieß es: Wie komm ich ins volle Zelt? Jetzt heißt es: Wer hat nun eigentlich die Wahl gewonnen? Der blaue Balken ist am drittgrößten, er gehört der AfD. Die ersten Wiesnbesucher verziehen wütend ihre Gesichter, sind geschockt. Ein Student schnaubt: "Scheiße!" Manche halten dem Banknachbarn ihr Gerät ins Gesicht, als könnten sie nicht glauben, was dort zu sehen ist. Einer fragt: "Was ist mit der FDP?" Zehn Prozent. "Sauber!"

Das Zelt brodelt wie ein Fußballstadion nach dem Anpfiff, und so riecht es auch: nach Schweiß, Bier, Wut. Mehrere Männer und Frauen stehen wieder auf den Tischen und grölen im Chor. "Na, na, na, nananaaaa ..." Eine andere Gruppe fügt hinzu: "BVB - Hurensöhneee". Und ein paar Tische weiter tönt es: "AfDeeeee, Hurensöhneeee!" In der Box rücken drei Männer zusammen. Ihre Hände halten die Krüge fest. Alle sind sich einig: Deutschland war zu links, aber die AfD als rechte Partei im Parlament, das ist ihnen doch zu viel. Je härter sie diskutieren, desto schneller fließt das Bier. Flüchtlinge - Schluck. Freier Markt - Schluck. Syrienkrieg - Schluck. Innerhalb von fünf Minuten haben sie sämtliche Themenfelder abgehakt. Sie bestellen drei neue Mass.

Plötzlich zieht ein Sicherheitsmann den Reporter zur Seite: Der Wirt wolle nicht, dass aus seinem Zelt über Politik berichtet wird. Keine Diskussion! Keinesfalls dürfe man den Namen des Zeltes im Text erwähnen. Wahl und Wiesn - das solle getrennt bleiben.

Da erklingt auch schon das erste Lied nach der Band-Pause: "Ich bin so schön, ich bin so toll, ich bin der Anton aus Tirol." Und der Wahnsinn geht weiter. Von Baran Datli

Redaktion: Karin Janker und Gunnar Herrmann

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