Literaturwissenschaftler über Hitlers Buch:"'Mein Kampf' ist eine Anleitung, wie man die Massen gewinnt"

Zitat aus Albrecht Koschorke „Adolf Hitlers Mein Kampf“, Matthes & Seitz, 2015.

Zitat aus Albrecht Koschorke "Adolf Hitlers Mein Kampf"

(Foto: Albrecht Koschorke „Adolf Hitlers Mein Kampf“, Matthes & Seitz, 2015.)

Radikalisierer profitieren von Populisten, sagt Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke. In einer Analyse von Hitlers "Mein Kampf" zeigt er, wie Ideologie funktioniert, und zieht Parallelen zum politischen Diskurs heute.

Interview von Karin Janker

SZ: Herr Koschorke, Sie haben gerade eine Studie zu Hitlers "Mein Kampf" vorgelegt und untersuchen darin die "Poetik des Nationalsozialismus". Was macht dieses Buch für einen Literaturwissenschaftler interessant?

Albrecht Koschorke: Mich interessiert die Sogkraft der Drohung, die von diesem Buch ausgeht. Bei Poetik geht es nicht immer nur um das Schöne, sondern auch um sprachliche Machttechniken. Hitler entwickelte in "Mein Kampf" eine Verschwörungstheorie; in meiner Analyse versuche ich nachzuvollziehen, mit welchen Mitteln er das tat und an welche Leser er sich wandte.

Hitler, Stalin, Mao, Gaddafi - fast alle Diktatoren des 20. Jahrhunderts schrieben Bücher, die ihre Gewaltherrschaft legitimieren sollten. An wen richteten sich diese Schriften?

Einerseits wirken diktatorische Bücher seltsam altmodisch. Ihre Propaganda verbreiteten diese Diktaturen ja vor allem über Radio, Film und Fernsehen. Die Bücher haben eine andere Funktion: Sie sind vor allem deshalb wirkmächtig, weil sie eben nicht gelesen werden. Darin ähneln sie heiligen Schriften: Kaum jemand hat Bibel oder Koran vollständig gelesen. Gerade die Tatsache, dass nur ein innerer Kreis sie gut kennt, verleiht diktatorischen Büchern und denjenigen, die in ihrem Namen sprechen, eine Aura von Autorität.

Albrecht Koschorke

Literaturwissenschafter Albrecht Koschorke hat "Mein Kampf" analysiert.

(Foto: Franzis von Stechow)

Hannah Arendt sagte, bei der Verbreitung einer Ideologie gehe es auch um die "Stimmigkeit einer fiktiven Welt". Wie erreichte Hitler diese Stimmigkeit?

Ein äußerst wichtiger Gedanke Arendts: Es geht nicht um Faktentreue oder Glaubhaftigkeit - eine Ideologie ist dann stark, wenn sie in sich stimmig ist. Hitler beschrieb in "Mein Kampf" die Probleme seiner Zeit und bot den Antisemitismus als Quasi-Lösung an. Auch wenn wir im Nachhinein wissen, dass seine Erzählung, wie er selbst zum Antisemiten wurde, nicht auf Fakten basiert, erscheint diese "Lösung" innerhalb der fiktiven Welt von "Mein Kampf" als stimmig.

Dabei ist das Buch doch keineswegs logisch in sich geschlossen.

Ganz und gar nicht, "Mein Kampf" liefert dem Leser ein immenses Überangebot. Der Arbeiter wie der Intellektuelle findet darin Anknüpfungspunkte. Hitler verschmilzt zwei "Markenkerne", die bis dahin unvereinbar schienen: Sozialismus und Nationalismus. Dass es eben nicht aus einem Guss ist, darauf basiert die integrierende Suggestionskraft dieses Pamphlets. Auch hier ist es wie mit Bibel oder Koran: Sowohl die Radikalen als auch die Friedfertigen finden Textstellen, auf die sie sich berufen können.

Sie kommen in Ihrer Analyse zu dem Schluss, dass gerade Halbwahrheiten als Katalysatoren für Propaganda wirken. Warum?

Wir erfahren das ja gerade am lebenden Objekt: Was bei Bewegungen wie Pegida an Halbwahrheiten kursiert, hat meistens einen faktischen Kern, der nicht widerlegbar ist. Es gibt ja tatsächlich einen Problemdruck durch Massenmigration. Um diesen Kern herum wird dann ein Bedrohungsszenario gestrickt, das die Lage gnadenlos vereinfacht und mit düsteren Phantasien des Fremden verknüpft. Diese Verschmelzung von wahrem Kern und erfundenem Szenario macht Verschwörungstheorien so schwer widerlegbar.

Mit Vernunft kommt man da oft nicht weiter. Sie warnen all jene, die angesichts von Propaganda an Aufklärung glauben: Der Demagoge verbreite seine Behauptungen nicht obwohl, sondern gerade weil er bei den Vernünftigen Anstoß erregt. Was hilft dann gegen Halbwahrheiten?

Ideologien muss man natürlich aufklärerisch entgegentreten. Darum ist auch die kritische Edition, die soeben von "Mein Kampf" erschienen ist, ein sehr ehrenwertes und wichtiges Projekt. Das Problem ist, dass diese gewissermaßen "vernünftige" Position im System der Ideologie immer schon als lächerliche Position vorgesehen war. Aufklärung will zeigen, wie etwas "wirklich" ist oder funktioniert. Wenn aber die Ideologie selbst offenlegt, wie sie gemacht ist, dann macht sie sich ein Stück weit immun gegen ihre Aufklärung. Das Einzige, was gegen Demagogen hilft, ist, die Luft aus den Dingen zu lassen. Den Diskurs in der Gesellschaft auf die Lösbarkeit einzelner Probleme zu richten und durch sozialpolitische Maßnahmen den Hetzern den Zulauf abzuschneiden.

"Fanatisierer sind nicht blind, sondern opportunistisch"

'Mein Kampf' Copyright To Expire By End Of 2015

Hitlers "Mein Kampf": Zeitgenossen hielten das Buch für lächerlich und krude.

(Foto: Getty Images)

"Mein Kampf" berauscht sich an seiner eigenen Macht, schreiben Sie. Es legt offen, wie Ideologie gemacht wird. Auf diese Weise spricht es aber gar nicht die Masse an, sondern inszeniert sie vielmehr als Objekt der Propaganda.

Das Buch erreicht damit zwei Leserkreise: Einerseits bietet es antisemitische Propaganda für den ideologischen "Normalverbraucher", andererseits zelebriert es eine sadistische Freude an der gewaltsamen Selbstermächtigung durch Propaganda. Es lebt von einer Lust am Machtwort. Hinter der eigentlichen Ideologie ist das Buch auch eine Anleitung, wie man die Massen durch Provokation gewinnt und instrumentalisiert.

Provokation ist eine zentrale Strategie von AfD und Pegida. Sie ziehen am Ende Ihrer Analyse von "Mein Kampf" Parallelen zum heutigen politischen Diskurs in Deutschland. Wo sehen Sie diese?

Grundsätzlich sollte man mit solchen Vergleichen sehr zurückhaltend sein. Aber manche ähnlichen Muster sind schon erkennbar. Entscheidend ist: Fanatisierer sind nicht blind, sondern opportunistisch. Sie kalkulieren die Wirkung ihrer Aussagen genau. Man sollte versuchen, ihre Wirkung zu durchkreuzen, nicht sie zu belehren.

Zur Person

geboren 1958, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz, untersucht in seinem Buch "Hegel und wir" (Suhrkamp 2015) Europa-Narrative mit Blick auf die Eurokrise. In "Adolf Hitlers Mein Kampf" (Matthes&Seitz 2016) analysiert er die Poetik des Nationalsozialismus.

Wenn jemand wie die AfD-Politikerin Frauke Petry fordert, dass auf Geflüchtete geschossen werden soll - auf welche Wirkung zielt das?

Ich halte es für fatal, wie das Kaninchen vor der Schlange auf die AfD zu starren und so einen enormen Nachhall für Äußerungen wie die von Frauke Petry zu erzeugen. Das Gefährliche an solchen Äußerungen ist ja, dass sie den Sprecher oder die Sprecherin aus der Perspektive einer bestimmten Gruppe als Helden dastehen lassen - nach dem Motto: Endlich sagt es mal jemand. Radikalisierung ist aber ein Prozess, der schon früher einsetzt.

Nämlich wo?

Dort, wo politische Rede unausgesprochene Konsequenzen beinhaltet. Denken Sie an die Forderungen der CSU, dass die Grenzen geschlossen werden sollen. Die unausgesprochene Frage hinter dieser Forderung lautet: Was passiert, wenn trotzdem jemand die Grenze überqueren will? Und die ebenfalls unausgesprochene Antwort: Dann muss man notfalls die Grenze mit Gewalt verteidigen. Von solchen unausgesprochenen Konsequenzen politischer Äußerungen profitieren die Radikalisierer. Die CSU ebnet hier der AfD gewissermaßen den Weg, weil die AfD das auszusprechen wagt, was bei manchen Äußerungen der etablierten Parteien mitschwingt. Sie speist sich aus der Lust, es endlich "offen zu sagen" - aus der Lust am Tabubruch.

Wenn das Entsetzen der Gegner mitkalkuliert ist und Halbwahrheiten sich kaum widerlegen lassen - wie sollte die Gesellschaft dann auf Radikalisierung und Propaganda reagieren?

Man kann auch bei Halbwahrheiten den wahren Kern von der falschen Schlussfolgerung trennen und ihre Suggestivkraft zu brechen versuchen. Ich halte aber unser politisches System für so gefestigt, dass wir keine totalitären Bestrebungen zu fürchten brauchen.

Sie glauben, radikale Ideologien verfangen nicht so leicht in der heutigen Gesellschaft?

Dass wir hier im vergangenen Jahr eine breite Willkommenskultur erlebt haben, ist Ausdruck einer weltoffenen Zivilgesellschaft, die sich hier in den vergangenen zwanzig Jahren gebildet hat. Das zeugt von einem großen Potenzial. Gleichzeitig bin ich aber auch vorsichtig mit diesem Optimismus. Schließlich zeigt der Aufstieg von Pegida, dass historische Lernprozesse auch wieder umkehrbar sind, wenn die soziale Anspannung steigt.

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