Literaturnobelpreis:Schatten auf dem Olymp

Lesezeit: 3 min

2018 wird die Auszeichnung nicht vergeben - die wichtigste Institution für das Kulturleben ist schwer beschädigt. Kann die Schwedische Akademie ihre Autorität je zurückgewinnen?

Von Thomas Steinfeld

In diesem Jahr wird es keinen Nobelpreis für Literatur geben. Anders als in vielen Jahren zuvor wird sich die weiße Flügeltür vor dem Sitzungssaal der Schwedischen Akademie in Stockholm nicht öffnen, an einem Donnerstag im Oktober, um 13 Uhr. Es wird kein Ständiger Sekretär vor die immer wieder aufs Neue überraschte Weltöffentlichkeit treten, um den Namen eines Schriftstellers auszurufen. Der 10. Dezember, der Tag der offiziellen Verleihung des Preises, der Tag des Königs, der Abendkleider, der Fräcke und der Walzer im Ballsaal, wird vergehen, ohne dass sich ein Literat unter die vier Preisträger aus den Naturwissenschaften wird mischen können: Denn am Freitagmorgen gab die Schwedische Akademie bekannt, dass die Vergabe des 1901 eingerichteten Nobelpreises für Literatur für dieses Jahr ausgesetzt ist.

Ausgesetzt wurde der Nobelpreis für Literatur bereits mehrmals, während des Ersten und während des Zweiten Weltkriegs, also aufgrund äußerer Katastrophen. Die Katastrophe, der in diesem Jahr der Nobelpreis zum Opfer fällt, kommt indes von innen. Sie ist hässlich und selbstgemacht. Sie begann Ende November mit einem Artikel in der Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter, in dem 18 Frauen den Ehemann eines Akademiemitglieds, der Lyrikerin Katarina Frostenson, sexueller Übergriffe in großer Zahl bezichtigten.

Dabei stellte sich heraus, dass diese Übergriffe in ein ganzes Umfeld von privaten Vorteilsnahmen gehörten, die in der Akademie und ihrer Umgebung zur Gewohnheit geworden waren. Der Skandal wurde zur Krise der Akademie im engeren Sinn, als sich mehrere der insgesamt 18 Mitglieder dem Ansinnen der amtierenden Ständigen Sekretärin, der Literaturwissenschaftlerin Sara Danius, verweigerten, aus den Übergriffen und Vorteilsnahmen grundsätzliche, institutionell wirksame Konsequenzen zu ziehen. Daraufhin verließen fünf Mitglieder die Akademie, in großem Durcheinander und begleitet von Schmähungen, heftigen Anmaßungen, Selbstwidersprüchen und falschen Ausflüchten - vonseiten der Verbliebenen. Die Absage des Nobelpreises ist, bis auf Weiteres, die greifbarste Folge eines inneren Zusammenbruchs, der die Akademie längst handlungsunfähig gemacht hatte.

Der Nobelpreis für Literatur ist die höchste Auszeichnung, die ein Schriftsteller erhalten kann. Er ehrt nicht nur ihn, sondern verleiht auch der Literatur einen Platz unter den wichtigen Dingen des Lebens. Dass er von einem kleinen, neutralen Land vergeben wird, ist die Bedingung seiner Unparteilichkeit. Dass er von einer monarchisch legitimierten, aristokratisch verfassten Akademie verliehen wird, ist die Voraussetzung seiner Unabhängigkeit. Eine solche Institution unterliegt keinen demokratischen Verfahren und muss sich nicht rechtfertigen. Kraft dieser Souveränität vermochte der Nobelpreis bedeutender zu sein, als die ihn vergebende Akademie es je hätte werden können. Dieses Verhältnis verkehrte sich im Lauf des Skandals: Einzelne Mitglieder wurden öffentlich sichtbar und erwiesen sich als wenig vertrauenswürdige Charaktere, was nicht nur ihnen persönlich schadete, sondern auch den Wert der Auszeichnung minderte, einer Preissumme von etwa 750 000 Euro zum Trotz. Mit der Entscheidung, den Nobelpreis auszusetzen, zieht die Akademie auch eine Konsequenz aus dem Risiko, dem ein potenzieller Preisträger in diesem Jahr ausgesetzt wäre: nicht nur der Frage nämlich, ob man einem solchen Gremium überhaupt noch ein unbefangenes Urteil zutrauen könne, sondern auch der Frage, wer da wen ehrt - die Akademie den Preisträger oder umgekehrt.

Die Krise der Schwedischen Akademie ist mit dem Verzicht auf den Nobelpreis nicht ausgestanden. So lässt die schwedische Behörde für Wirtschaftsvergehen gegenwärtig untersuchen, ob und in welchem Maß die Akademie das Steuerrecht hintergangen hat. Möglicherweise liegen auch andere Vergehen vor, Untreue etwa. Moral und Integrität sind ohnehin preisgegeben. Vor allem aber ist völlig unklar, wie die nun notwendig gewordene Rekonstruktion der Akademie vor sich gehen soll.

Mindestens acht neue Mitglieder müssen bestimmt werden. Will man die Aufgabe wirklich den verbliebenen Mitgliedern der Akademie überlassen, den Menschen mithin, die sich einer rechtlichen Aufklärung des Skandals entziehen wollten und auch sonst vor allem Beharrungsvermögen zeigten? Und welcher Intellektuelle von einiger Selbstachtung wäre bereit, sich mit diesen Menschen zu arrangieren? Oder wäre es nicht besser, wenn alle 18 Sitze in der Akademie neu vergeben würden? Vermutlich wird es, um die Reputation der Akademie zurückzugewinnen, nicht ausreichen, den Nobelpreis dieses Jahres im kommenden Jahr zu vergeben, neben dem Nobelpreis für das Jahr 2019: Auf diese Weise würde eine Kontinuität vorgespiegelt, die es jetzt nicht mehr geben kann.

© SZ vom 05.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: