Lissabon-Vertrag:Verfassungsgericht zweifelt an der EU-Reform

Bangen um den Vertrag von Lissabon: Die Karlsruher Richter äußern Misstrauen gegen eine "freiheitsgefährdende" Übertragung von Befugnissen auf Brüssel.

H. Prantl

Das Bundesverfassungsgericht beurteilt den EU-Reformvertrag von Lissabon mit deutlicher Skepsis. Im Lauf des ersten Verhandlungstags über das deutsche Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag steigerten sich die erst vorsichtigen Bedenken der Richter in spürbares Misstrauen.

Lissabon-Vertrag: "Ist der Gedanke des Immer-Mehr in der Tendenz nicht freiheitsgefährdend?": Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio (l.) hegt Zweifel an der EU-Reform.

"Ist der Gedanke des Immer-Mehr in der Tendenz nicht freiheitsgefährdend?": Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio (l.) hegt Zweifel an der EU-Reform.

(Foto: Foto: AP)

Dieses gilt vor allem der massiven Erweiterung der Kompetenzen für die Europäische Union, die auf Kosten der Nationalstaaten geht. Vor allem der Zugriff Brüssels auf das bisher nationale Strafrecht beunruhigte die Richter.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble versuchten, die Bedenken des Gerichts zu zerstreuen. Steinmeier beschrieb die Europäische Union als ein neues Instrument des politischen Handelns der Nationalstaaten. Deutschland würde also mit den Kompetenzübertragungen auf die EU, wie sie der Lissabonner Vertrag vorsieht, nicht schwächer, sondern stärker.

Kein Mitgliedsstaat, auch nicht Deutschland, so Steinmeier, könne seine Interessen angesichts globaler Krisen "noch alleine behaupten". Schäuble warnte daher davor, "jede Aufgabenwahrnehmung auf supranationaler Ebene" als Verlust an nationaler Souveränität zu beschreiben.

Das aber taten die Kläger gegen den Lissabon-Vertrag: Der Münchner CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler; die Fraktion der Linken im Bundestag; eine Gruppe von Beschwerdeführern um den früheren Thyssen-Vorstandschef Dieter Spethmann und den ehemaligen CSU-Europaabgeordneten Franz Ludwig Graf von Stauffenberg; sowie der Bundesvorsitzende der ÖDP, Klaus Buchner.

Der Freiburger Staatsrechtsprofessor Dietrich Murswiek, Rechtsvertreter von Gauweiler, attestierte dem Lissabon-Vertrag eine "unglaubliche Verstärkung der Machtposition" der EU, bezeichnete die Brüsseler Kommission als "autokratischen Prinzipal" und sprach vom "notorischen Demokratiedefizit" Europas, das sich mit dem Vertrag noch vergrößere.

Alle Kläger waren sich einig darin, dass mit dem Vertrag die Grenze überschritten sei, bis zu der das Grundgesetz die Übertragung von deutschen Hoheitsrechten erlaube.

Für letztere Kritik gab es Sympathien bei den Verfassungsrichtern: Die Vertreter von Bundesregierung und Bundestag plädierten zwar dafür, dass die EU mit ihren neuen Kompetenzen vorsichtig und zurückhaltend umgehen müsse.

Die Verfassungsrichter Udo Di Fabio, Herbert Landau, Rudolf Mellinghoff und Siegfried Broß schienen aber daran nicht zu glauben. In ihren Fragen an die Prozessbeteiligten legten sie dar, wie ausgreifend die EU schon ihre bisherigen Kompetenzen ausgelegt habe.

Bei Richter Di Fabio, der als Berichterstatter des Gerichts eine wichtige Rolle im Verfahren hat, floss das gesammelte Unbehagen in eine Doppelfrage an Schäuble: "Muss man nicht fragen: Ist die Kompetenz, die jemand gewinnt, ein Gewinn für die Freiheit? Ist der Gedanke des Immer-Mehr in der Tendenz nicht freiheitsgefährdend?"

Die Kritik der Richter deutet darauf hin, dass der Vertrag die Karlsruher Prüfung nicht unbeschadet überstehen wird. Rätselraten besteht freilich darüber, welche Vorbehalte oder Einschränkungen das Gericht machen und auf welche Weise das geschehen könnte.

Für den Schluss der Verhandlung am Mittwoch hat sich das Gericht die Diskussion des Artikels 146 Grundgesetz aufgehoben. Der sieht eine Volksabstimmung für den Fall vor, dass eine neue Verfassungsordnung das Grundgesetz ablöst oder überlagert. Das Gericht könnte also eine Volksabstimmung anordnen. Das Urteil wird im Frühjahr erwartet.

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