Libyens Zukunft nach Gaddafis Tod:Wenn der gemeinsame Feind fehlt

Nur Träumer können ernsthaft glauben, dass sich Libyen nach Gaddafis Tod zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild wandelt. Die Rebellen waren sich allein im Widerstand gegen den Ex-Diktator einig - am Ende wird wohl nur der politische Islam das Land befrieden können.

Rudolph Chimelli

Der Autokrat ist tot, aber das Erbe seiner Herrschaft wird das Land noch lange belasten. Muammar al-Gaddafis Ende bedeutet für Libyen die Erlösung aus seiner Tyrannei, und die Nato hat mit ihren Kampfflugzeugen den Rebellen den Weg bereitet. Aber nur Träumer können glauben, der nordafrikanische Staat werde sich zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild wandeln - auch wenn der Zeitplan, den das Übergangsregime verfolgt, diesen Eindruck erweckt.

Im zerschossenen Sirte, dem Geburts- und Todesort des Diktators, wird der Chef des Übergangsregimes, Mustafa Abd al-Dschalil, voraussichtlich an diesem Samstag die "Befreiung" und den Beginn der neuen Zeit verkünden. Binnen 30 Tagen soll aus dem undurchsichtigen Nationalen Übergangsrat, der die Revolution anführte, eine vorläufige Regierung werden. Der jetzige "Premierminister" Mahmud Dschibril, ein in Amerika ausgebildeter Wirtschaftsfachmann, wird ihr nicht mehr angehören, aber die Leitung behalten, bis das Kabinett gebildet ist.

Als nächste Stufe ist in den folgenden Wochen die freie Wahl einer "Libyschen Konferenz" vorgesehen, der außer ihrem Vorsitzenden Dschibril kein anderes Mitglied des Übergangsrates angehören soll. Zusammen mit unabhängigen Experten bildet die Konferenz einen Verfassungsausschuss, der die Kompetenzen der Vorläufigen Regierung bestimmen und ein Grundgesetz für das neue Libyen ausarbeiten soll. Wenn diese Verfassung vom Volk in einem Referendum angenommen wird, bleibt das Parlament zu wählen, aus dem dann die endgültige legitime Regierung des demokratischen Libyen hervorgehen soll. So weit die Theorie.

Es gibt in dem "Massenstaat", den Gaddafi dem Land verpasste, keinerlei politische Strukturen, keine Verwaltung, keine Staatspartei, auf die sich solch komplizierte Abläufe stützen könnten. Weder die miteinander rivalisierenden Stämme noch die "Stadträte", die im Verlauf der Revolution entstanden sind und eifernd auf ihre Rechte pochen, sind dafür geeignet. Der Stamm der Kadhafa, der dem gestürzten Diktator bis zuletzt die Treue hielt, ist dem neuen Regime sowieso nicht wohlgesinnt.

Nicht der Übergangsrat bestimmt bisher, was im Land geschieht, sondern sein bewaffneter Arm, die Milizen der Aufständischen und ihre Kommandeure, die sich bis Donnerstag zwar über den Feind einig waren, aber sonst über wenig. Sie haben die Waffen aus den Depots Gaddafis, sie haben Geld, und sie verfügen sowohl über loyale Gefolgsleute als auch über die Mittel, Andersdenkende unter Druck zu setzen. Selbst Dschibril hat mehrmals vor dieser Gefahr gewarnt. Einmal sprach er in einem Interview von drohendem "Chaos".

Der Rechtsanwalt Fathi Terbil aus Bengasi, dessen Verhaftung im Februar die Revolution in Gang brachte, weist heute darauf hin, dass die Milizen durch Ausschreitungen gegen Gaddafi-Anhänger, durch willkürliche Verhaftungen und Folter das neue Regime in Misskredit bringen. Solche Razzien sind unter anderem aus der Hauptstadt Tripolis bekannt geworden.

Angst vor dem Chaos

Wie die künftige Regierung diese Milizen unter Kontrolle bringen soll, ist nicht ersichtlich. Sie in die Armee und die Polizei einzuordnen, ist ein Traumziel. Mindestens soll der Fehler vermieden werden, den die Amerikaner nach dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein mit der Entlassung aller Beamten des Sicherheitsapparates machten. Das Gros der Funktionäre Gaddafis soll im Amt bestätigt werden.

Die Chefs der örtlichen oder regionalen Milizen sind ideologisch sehr unter-schiedlich orientiert. Eines ihrer Schwergewichte ist der Militärkommandant von Bengasi, Abdel Hakim Belhadsch. Er war Emir der mit al-Qaida verbundenen Islamischen Kampfgruppen Libyens und hat danach mit den Islamisten in Afghanistan gekämpft. Dort wurde er von den Amerikanern gefangen, an Gaddafis Geheimdienst überstellt und gefoltert.

Bevor Belhadsch mit Gaddafis Sohn Saif al-Islam seine Befreiung aushandeln konnte, war er jahrelang in Haft. Heute hat er sich vom militanten Islam distanziert und bekennt sich zum Pluralismus. Ob dies für alle seine Gardisten gilt, die an der Eroberung der Hauptstadt entscheidenden Anteil hatten, ist nicht gewiss. Auch der gegenwärtige Stadtrat von Bengasi wird von einem Islamisten, Mustafa Hadschar, beherrscht.

Eine der potentiell wichtigsten Figuren für die Zukunft des Landes könnte der im Ausland wenig bekannte Scheich Ali Sallabi werden, der zum Übergangsrat in einem ungeklärten Verhältnis steht. Er hält es für wahrscheinlich, dass eine politische Partei auf islamischer Grundlage durch demokratische Wahlen an die Macht kommt. "Es war eine Revolution des Volkes", sagte Sallabi jüngst in einem Interview, "und das ganze Volk besteht aus Muslimen, Islamisten." Säkularisten seien gleichfalls Libyer und "unsere Brüder".

Sie hätten das Recht, dem Volk ihre Ideen zu unterbreiten. "Falls das libysche Volk sie wählt, stört mich das nicht. Wir glauben an Demokratie und an den friedlichen Übergang der Macht." Ob die Libyer Sallabis Erwartungen erfüllen, ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Als besonders religiös gelten die Landsleute des Scheichs nicht, obwohl an ihrer islamischen Grundeinstellung kein Zweifel besteht. Ob sich diese Einstellung im Wahlverhalten niederschlägt, dürfte auch von der Entwicklung in den anderen arabischen Ländern abhängen und dem Prestige, das die Islamisten dort entfalten.

Bei freien Wahlen hat sich überall der politische Islam durchgesetzt

Bei der Mehrheit der Anhänger des politischen Islam hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass nicht der Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit und der unbeschränkten Macht die erstrebten Mehrheiten bringt. Die Wähler, so die gültige Theorie, seien nur durch Einordnung in demokratische Formen der Meinungsbildung zu gewinnen - aus der die Islamisten nach eigener Überzeugung freilich als Sieger hervorgehen werden. Vorbild ist der türkische Premier Tayyip Erdogan mit seiner AKP, ein anerkannter Partner der westlichen Welt, nicht Mullah Omar, der untergetauchte Führer der afghanischen Taliban.

Überall, wo es in der islamischen Welt freie Wahlen gab, haben sich Formationen des politischen Islam als relativ oder absolut stärkste Kraft durchgesetzt. Das galt für Algerien, wo die Islamische Rettungsfront FIS die Parlamentswahlen gewonnen hätte, wenn nicht das Militär das Ergebnis durch Staatsstreich annulliert hätte. Dies traf auf Palästina zu, wo der Westen den einwandfreien Wahlsieg der Hamas bis heute nicht zur Kenntnis nehmen will. Im 19. und im 20. Jahrhundert hatten Europäer bestimmt, wie die Länder südlich und östlich des Mittelmeers regiert wurden. Dass dies nicht mehr möglich ist, lässt sich nur zum eigenen Schaden ignorieren. Was dort im 21. Jahrhundert geschieht, wird nicht mehr in Paris, London oder Rom bestimmt, schon gar nicht in Berlin.

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