Einheitsregierung:Libyen droht zwischen zwei rivalisierenden Regierungen zu zerfallen

Fayez Serraj from the UN brokered Libyan unity government

In den kommenden Tagen will Fayez al-Serraj in Tripolis ein Kabinett bilden.

(Foto: dpa)
  • Seit Mitte 2014 streiten sich die zwei rivalisierenden Regierungen in Baida und Tripolis um die Macht im Land.
  • Der international anerkannte Übergangspremier Fayez al-Serraj ist nach Tripolis gereist, um die Stadt zum Sitz der Einheitsregierung zu machen. Bewaffnete Milizen versuchten den Besuch zu verhindern.
  • Al-Serraj kündigte an, sich für eine Waffenruhe einzusetzen und den Kampf gegen den IS zu organisieren. Zuerst muss er aber ein Kabinett bilden.

Von Paul-Anton Krüger

Mancher Bewohner von Tripolis fühlte sich in den vergangenen Tagen wie ein unfreiwilliger Statist in einem Agententhriller. Der von den Vereinten Nationen und westlichen Staaten unterstützte Übergangspremier Fayez al-Serraj hatte angekündigt, sich von Tunis in die libysche Hauptstadt zu begeben.

Die dort herrschende Regierung und einige mit ihr verbundene Milizen wollten das allerdings um jeden Preis verhindern. Sie riefen den Ausnahmezustand aus und schlossen am Sonntag und Montag zeitweise den Flughafen Mitiga; Kämpfer schossen mit Luftabwehrkanonen in den Himmel, um dem Flugverbot Nachdruck zu verleihen. Es hatte Gerüchte gegeben, Serraj und Mitglieder seines Präsidentschaftsrates wollten an Bord einer Linienmaschine nach Tripolis kommen, um dort ihre Ämter anzutreten.

Am Mittwochnachmittag kamen sie tatsächlich, allerdings mit einem Boot, das am Marine-Stützpunkt Abu Sittah anlegte, mitten in der Stadt. Die Überraschung war gelungen. Serraj und sechs seiner Kabinettsmitglieder hatten im Schutz der Dunkelheit in der tunesischen Stadt Sfax eingeschifft und waren unterwegs angeblich in kleinere Boote umgestiegen. Mit dem riskanten Manöver soll der politische Stillstand in Libyen durchbrochen werden, in dem sich bislang zwei konkurrierende Regierungen in Baida und Tripolis blockieren.

Milizen akzeptieren Präsidentschaftsrat nicht

Ob das gelingen kann, ist völlig offen, zumindest aber schützten Einheiten der Marine und Milizen aus der 200 Kilometer entfernten Stadt Misrata und andere Kämpfer den Stützpunkt; sie unterstützen die Regierung der Nationalen Einheit fürs Erste. Misrata sieht sich durch die Ausbreitung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bedroht. Auch wollen die Geschäftsleute von dort endlich wieder Handel treiben können.

Überdies werden alle Milizen in Libyen von der Zentralbank bezahlt, auch wenn sie auf unterschiedlichen Seiten kämpfen. Serraj soll sich mithilfe des internationalen politischen Drucks die Kontrolle über die Währungsreserven sichern. Die Loyalitäten in Libyen sind momentan jedoch sehr volatil.

Bewaffnete Gruppen in der Hauptstadt, die hinter Khalifa al-Ghwail stehen, dem Premier der bislang in Tripolis herrschenden Gegenregierung, sind offenbar nicht bereit, Serraj zu akzeptieren. Schon am Mittwochnachmittag kam es zu Schusswechseln, bei denen ein Mensch getötet und weitere verletzt wurden.

Islamistische Milizen hatten gedroht, Mitglieder des Präsidentschaftsrates zu verhaften, sollten sie sich nach Tripolis wagen; sie riegelten die Zufahrtsstraße zu dem Marinestützpunkt ab. Ghwail forderte Serraj auf, Tripolis wieder zu verlassen oder sich zu stellen. Ein bekannter Fernsehsender, der Ghwail unterstützt, wurde daraufhin von Bewaffneten gestürmt und geschlossen.

IS größte Bedrohung für die Stabilität

Sollte es Serraj gelingen, seine Regierung in der Hauptstadt zu etablieren und die Kontrolle über die wichtigsten Ministerien zu übernehmen, könnte dies ein Wendepunkt in der Krise in Libyen werden und den fortscheitenden Zerfall des Staates stoppen. Unklar ist derzeit allerdings noch, wie sich die zuvor international anerkannte Regierung in Baida verhalten wird, die den Osten des Landes kontrolliert.

Die Bildung einer Einheitsregierung hatten die libyschen Konfliktparteien als Teil eines unter UN-Vermittlung ausgehandelten Friedensabkommens grundsätzlich akzeptiert. Wichtige Kräfte im Osten hatten eine Abstimmung des Parlaments in Tobruk über eine von Serraj vorgestellte Kabinettsliste blockiert. Das führte dazu, dass die USA, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland und andere Staaten Serrajs Regierung auf Grundlage einer von der Mehrheit der Parlamentsmitglieder unterzeichneten Erklärung zur einzig legitimen Vertretung Libyens erklärten.

Der UN-Sondergesandte Martin Kobler verglich den Schritt mit einem Rettungswagen: Der müsse auch fahren, wenn darin Schwerverletzte lägen, selbst wenn er kein Nummernschild ausgestellt bekommen habe. Gemeint ist damit die zunehmende Bedrohung durch den IS.

Er kontrolliert in Libyen ein Hunderte Quadratkilometer großes Gebiet um Sirte, die Heimatstadt des mithilfe einer Intervention westlicher Staaten gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi am Mittelmeer, sowie weitere Orte und hat in Libyen und im Nachbarland Tunesien eine Reihe schwerer Anschläge verübt. Nach Schätzungen der US-Geheimdienste soll der IS bis zu 6500 Kämpfer in Libyen haben, andere Quellen sprechen von 2000 bis 3000 Militanten.

Widerstand gegen die Terroristen könnte Libyer einen

Soldaten von Spezialeinheiten aus den USA, Großbritannien und Frankreich sind bereits im Land; eine größer angelegte Militäraktion gegen die Dschihadisten wollen diese Staaten aber möglichst erst auf Bitten der neuen Regierung starten.

Und wie Kobler immer wieder betont, versprechen Luftangriffe ohne Truppen am Boden wenig dauerhaften Erfolg. Diese könnten aber nur die Libyer stellen, also eine Einheitsregierung. Auch versprechen sich europäische Staaten, besser gegen Schlepper aus Libyen vorgehen zu können, die in den vergangenen Tagen wieder Boote mit Hunderten Menschen Richtung Italien schickten.

Steinmeier sieht Ankunft Serrajs positiv

Serraj hielt als erst Amtshandlung eine Pressekonferenz ab. Er kündigte an, sich für eine Waffenruhe zwischen den Milizen und nationale Aussöhnung einzusetzen und den Kampf gegen den IS zu organisieren. Bei allem Streit um Einfluss und wirtschaftliche Ressourcen könnte der Widerstand gegen den IS die Libyer einen. Die Terrormiliz gilt selbst den meisten Islamisten wegen ihrer überwiegend aus dem Ausland stammenden Kämpfer als fremde Macht.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier würdigte ähnlich wie seine Kollegen Serrajs Eintreffen in Tripolis als "wichtigen Schritt" bei der Umsetzung des von den UN vermittelten Friedensabkommens und für "die Wiederherstellung gesamtstaatlicher Ordnung in Libyen". Alle politischen Kräfte des Landes seien in der Pflicht, die Einheitsregierung bei einer "friedlichen und geordneten Amtsaufnahme zu unterstützen". Maßstab dafür wird zunächst sein, ob Serraj den Marinestützpunkt verlassen kann.

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