Baltikum:776 Flüchtlinge: Zu viel für ein EU-Land?

LATVIA-EUROPE-MIGRANTS

Letten protestieren in Riga gegen Flüchtlinge. Die Bewohner des kleinen EU-Staats fürchten die finanzielle Last, meint die frühere Präsidentin.

(Foto: Ilmars Znotins/AFP)
  • In Lettland gibt es ein einziges Flüchtlingsheim.
  • Die Regierung in Riga will innerhalb der nächsten zwei Jahre insgesamt 776 Flüchtlinge aufnehmen - ein Großteil der lettischen Bevölkerung fürchtet die Kosten.
  • In dem EU-Land sind viele mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht einverstanden.

Von Frank Nienhuysen, Mucenieki

Es war ihre zweite Flucht, und wie Anusch Bulgadarian vom Irak diesmal an die Ostsee gekommen ist, kann sie selber nicht genau sagen. Das letzte Land, an das sie sich erinnern kann, ist die Türkei. Von dort ging es nur noch nachts weiter, zusammen mit ihrem Mann und sechs Kindern. Auf Schiffen, auf Lastwagen, ohne ein Fenster, aus dem sie schauen konnten. Am liebsten wollten sie nach Deutschland, dahin waren sie schon einmal geflüchtet, im Jahr 2001. Zehn Jahre lebten sie in Westfalen, sie waren geduldet, dann dachten sie, nun, da Saddam gestürzt ist, wäre es an der Zeit zurückzukehren. Aber im Irak wurde es noch schlimmer für die Christin und ihren muslimischen Mann. Vor ein paar Monaten flüchteten sie erneut.

Eines Nachts setzte sie der Fahrer in einem Waldstück aus und sagte, "da lang", zehn Minuten, höchstens 20. Es wurden sechs Stunden. Anusch Bulgadarian schleppte die zwei Jahre alte Tochter im Tuch vor der Brust, die anderen Kinder knatschten vor Erschöpfung. Um sieben Uhr früh traf die Familie auf einen Pilzsammler. Der rief die Polizei, und von ihr erfuhren sie, wo sie überhaupt waren. Lettland war nicht der Name des Landes, mit dem sie und ihr Mann gerechnet hatten. Bulgadarian aber sagte, "na gut, ist ja auch Europa".

120 Euro pro Woche für acht Menschen

Statt wieder Deutsch lernt sie nun eben Lettisch. Der Sprachunterricht, der Asylantrag, das Warten auf eine Entscheidung der Behörden, manches ähnelt sich ja doch. Im Vergleich zu Deutschland ist das Geld allerdings sehr knapp: 120 Euro pro Woche, das muss für alle acht Familienmitglieder reichen. Pampers werden erst später gewechselt, Cornflakes zum Frühstück, wie sie es aus Deutschland kannten, sind gestrichen. Vor allem aber: Die Bulgadarians sind Exoten im Baltenstaat. Das Flüchtlingsheim in Mucenieki ist das einzige im ganzen Land.

Etwa hundert Asylsuchende leben in dem Gebäude einer Plattensiedlung, wo die Sowjetarmee einst eine Militärbasis hatte, eine Stunde Busfahrt von Riga entfernt. Es gibt einen Fußballplatz, einen kleinen Spielplatz, einen Tante-Emma-Laden, sehr viele Bäume. Und Misstrauen. Ein in Folie gestecktes DIN-A-4-Blatt, das jemand in Sichtweite des Heims angepappt hat, macht offen Stimmung gegen Flüchtlinge. Die Debatte über Europas Krise, über Grenzschließungen, Lasten, Kapazitäten, all das kreist um Griechenland und die Türkei, Deutschland, Österreich, die Balkanstaaten - aber in Lettland, das ein einziges Flüchtlingsheim hat, wird sie auch geführt. Die Regierung in Riga will innerhalb der nächsten zwei Jahre insgesamt 776 Flüchtlinge aufnehmen. Vor ein paar Wochen sind zwei Familien nach Lettland gekommen: eine aus Syrien, eine aus Eritrea. Sie leben nun in Mucenieki. Ob Griechenland damit entlastet wird, ist für Riga nicht ganz so vorrangig wie die Frage, wo Lettlands eigene Grenzen liegen. Eine verbindliche Quote kommt für die Regierung jedenfalls nicht infrage.

"Es ist alles auch eine Frage des Geldes"

Ilze Pētersone-Godmane ist Staatssekretärin im Innenministerium, und sie sagt: "776 sind in absoluten Zahlen vielleicht nicht so viel, aber in Prozenten schon. Das sind mehr als seit Beginn unserer EU-Mitgliedschaft zusammen." Die Regierung, überhaupt die meisten Letten finden, dass diese Zahl hoch genug sei für ihr Land, das zwei Millionen Einwohner hat, während der Sowjetherrschaft jahrzehntelang fremdbestimmt war und jetzt zwar den Euro hat und Wachstum, aber noch immer nicht das Lebensniveau anderer EU-Staaten. "Es ist alles auch eine Frage des Geldes", sagt Pētersone-Godmane. Für sie ist klar, Lettland will kein Risiko eingehen, indem es mehr Menschen aufnimmt. "Wir wollen erst wissen, ob unser Integrationsweg erfolgreich ist."

Andere formulieren es drastischer. Augusts Brigmanis, Fraktionschef des mitregierenden Bündnisses der Grünen und Bauern, sagte nach einem Bericht der Baltic Times über Flüchtlinge, "ich persönlich möchte sie hier nicht sehen". Wüssten sie "von der Haltung der Bevölkerung und vom Umfang der Sozialleistungen in Lettland, würden die meisten gar nicht zu uns kommen". 70 Prozent der lettischen Bevölkerung würden Flüchtlinge nicht willkommen heißen, sagte Brigmanis. Nach Angaben der Regierung kommt kein anderes Land in der EU auf einen solchen Wert.

Refugees, MPs play soccer in Latvia

Freundschaftsmatch: Lettische Politiker spielen gegen Bewohner des Flüchtlingsheims in Mucenieki Fußball.

(Foto: Valda Kalnina/dpa)

Veronika Krasnowa ist sich sicher, dass es in Mucenieki zumindest "mehr als 50 Prozent sind". Sie ist eine von ihnen, eine ältere, elegante Dame mit feinem Lidstrich, die gerade vom Einkauf kommt. Sie sagt, was viele sagen: dass Lettland Flüchtlinge einfach nicht gewöhnt, das Land arm sei und die Rentner selbst kaum genug zum Leben hätten. Und dass die Männer unter den Flüchtlingen ja gar nicht arbeiten wollten. Sie kennt allerdings keinen von ihnen. Einmal, erzählt sie, saß sie im Bus mit männlichen Flüchtlingen. Alles war okay, "aber wer weiß, wenn ich noch jung wäre und ich ihnen gefallen hätte", sagt sie. "Wäre ich an ihrer Stelle, ich würde in meiner Heimat kämpfen."

"Merkel hat Versprechen gemacht, aber andere Staaten nicht konsultiert"

Es sind Ressentiments, wie sie in allen Ländern vorkommen, und es gibt auch Einwohner in Mucenieki, die betonen, dass noch nie etwas Negatives vorgefallen sei, dass sie genervt seien von allerlei Gerüchten aus dem Internet, der Propaganda radikaler Gruppierungen, die Fernsehbilder von Flüchtlingstrecks auf der Balkanroute zur Stimmungsmache nutzen.

Ausdrücklich nach Lettland will vermutlich keiner dieser Flüchtlinge, andererseits wäre es Kanzlerin Angela Merkel gewiss recht, wenn mehr EU-Länder sich bereit fänden, mehr Menschen aufzunehmen, auch verpflichtend. Das aber ist derzeit nicht durchsetzbar, auch nicht in Lettland. Die ehemalige Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga sagt es so: "Merkel hat Versprechen gemacht, aber andere Staaten nicht konsultiert. Die Frage, wie viel andere Länder beitragen können, ist nicht in einer Sitzung zu lösen. Da hilft es auch nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen und von fehlender Solidarität zu reden." Vike-Freiberga meint damit auch deutsche Medien, die Ungarn, Polen und die Slowakei kritisiert hätten. "Das ist schlechter Geschmack", sagt sie. Acht Jahre lang war Vike-Freiberga Präsidentin von Lettland, sie hat es nach Europa begleitet, in die EU und die Nato, nun sagt sie in ihrem Apartment im Zentrum von Riga zum Thema Solidarität: "Als damals zehn Staaten der EU beitraten, hat Deutschland eine siebenjährige Sperre für Arbeitskräfte eingeführt."

"Die Politiker haben Angst, den Menschen mehr zu erklären"

Vike-Freiberga war einst selber Flüchtlingskind; ihre Familie floh vor der Roten Armee zunächst nach Deutschland, dann ging sie nach Marokko, später nach Kanada. Sie sagt, "noch immer habe ich Albträume, ich hatte sie das ganze Leben lang." Aber diesen Unterschied macht sie fest zur heutigen Flüchtlingswelle: "Jetzt gibt es einen Mix aus echten Flüchtlingen und Menschen, die weglaufen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Und wir wissen nicht: Wer ist wer?" Lettland jedenfalls habe ein großes Problem, sagt sie: die Sorge der Bevölkerung über die finanzielle Last. "Die Menschen, die hierherkommen, werden nicht glücklich sein. Wir können nicht Flüchtlingen doppelt so viel geben wie Rentnern, die hier ihr ganzes Leben sind."

Es gibt auch Letten, die dem Land etwas mehr abverlangen als die Integration von einigen Hundert Menschen in zwei Jahren. Egils Grasmanis etwa, Unternehmer, Inhaber eines Brettspiel-Verlags. Er sagt: "Wir beklagen uns ständig, wie schwach wir sind, wie wenig Geld wir haben. Lettland ist nicht arm. Die Politiker haben nur Angst, den Menschen mehr zu erklären."

Grasmanis hat eine Facebook-Gruppe gegründet, die Flüchtlinge unterstützt, und jetzt sitzt er mit anderen Helfern in einem kargen, unterkühlten Raum des Kulturzentrums Kanepes, in dem ein Klavier steht und Blechtonnen, die mit bunten Sitzkissen bezogen sind. 2800 Mitglieder hat seine Facebook-Gruppe bereits, er organisiert Spenden, Kleidung, Jobs. Gerade hat er für den Zahnarztbesuch eines Flüchtlings gesammelt, damit seine Zähne nicht gleich gezogen, sondern versorgt werden. Er sagt, "wir sind ein Teil Europas, wir müssen helfen." Und zumindest in seinem Kreis hat er Erfolg: Für die Zähne brachten fünf Letten 135 Euro zusammen.

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