Lesermeinungen:"Widerstand war für uns nicht nur Aufgabe, sondern Pflicht"

Protest gegen Springer-Presse nach Attentat auf Dutschke

Protest gegen Springer-Presse: Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke versuchen Demonstranten am Abend des 13. April 1968 vor der Frankfurter Societäts-Druckerei die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Wir haben SZ-Leser gefragt, was 1968 für sie bedeutet. Manche haben die Zeit miterlebt, andere haben sich später eine Meinung gebildet. Eine Auswahl der besten Leserbeiträge zur Studentenrevolte vor 50 Jahren.

1968 ist für viele ein Symbol für den Aufbruch in eine bessere Welt - für andere wiederum ein riesiges Umerziehungsprojekt. Was haben wir 50 Jahre nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 wirklich den 68ern zu verdanken - und was bleibt? Leser haben auf SZ.de und bei Facebook ihre Erinnerungen und Gedanken geteilt. Olaf Maly blickt zurück:

"Wir sollten nicht vergessen, was damals alles los war: Kulturrevolution in China, der erste Prager Frühling, Vietnamproteste in Amerika, später auch in den anderen westlichen Staaten, die Ermordung von Martin Luther King, Aufstände in Detroit, Kuba, Che Guevara, Mauerbau, um nur einiges zu nennen. Dazu kam die erste Wirtschaftskrise nach dem Krieg, die bis in die 70er Jahre hineingereicht hat. Dann die sogenannte Ölkrise, die man uns vorgegaukelt hat. Dazu die Notstandsgesetze. Deswegen haben wir uns eben Gedanken gemacht, diskutiert, demonstriert und versucht, eine neue Gesellschaftsform zu finden, die den Zeiten angemessen war. Gegen Imperialismus, Kapitalismus und Kolonialismus. Hat nicht geklappt, wie wir heute sehen, aber wir haben es wenigstens versucht. Es war eine aufregende Zeit."

Sein Urteil über die heutige Zeit fällt hingegen ernüchternd aus:

"Heute versucht man nichts mehr. Man passt sich an und jagt dem Geld nach. Was bleibt? Für die, die dabei waren, schöne Erinnerungen. Für die jetzige Generation? Das daraus resultierende System."

Andere Leser erinnern sich an Protestmärsche, ihre damalige Sicht der Dinge, die politischen Strömungen, Musik und Mode:

"Vor bald 50 Jahren war der 'Sternmarsch auf Bonn' gegen die dann später am 30. Mai 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze. Ich bin damals mit einem Gewerkschaftsbus nach Bonn gefahren. Hauptredner war Heinrich Böll. Anschließend ging es dann nach Dortmund in die Westfalenhalle zur Kundgebung des DGB. Für mich als 17-jähriger Bursche war das ein Erlebnis. Einige Flugschriften von damals habe ich noch. Dann war auch der Vietnamkrieg. Ihn lehnten wohl die meisten ab. Dass man mit Ho-Chi-Minh-Rufen durch die Straßen lief, war dem geschuldet, dass ein Volk mit primitiven Mitteln gegen die Bomber der USA kämpfte. Eigentlich wollte die Jugend Frieden für alle Völker. Ein großes Vorbild war Martin Luther King. Aber das Ganze ging ja weiter. Flower power! Man hat selbst Blümchenhosen getragen. Die Liedermacher hatten Hochkonjunktur. Seltsamerweise sind ihre Lieder auch heute noch aktuell. Und, außer den Nazis, hatte man damals, zumindest in der Jugend, keinen Hass auf Ausländer. Im Gegenteil, jeder war Teil des Ganzen." (Fred Wiegand)

50 Jahre 68er-Bewegung - ein Schwerpunkt

Vom tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg über die Massendemonstrationen bis zum blutigen Terror der RAF: Alle Analysen, Interviews und Fotos zur 68er-Bewegung finden Sie hier.

"Ich habe 1968 in Frankfurt im 7./8. Semester Soziologie und Politologie studiert und hatte mich inzwischen von der Frankfurter Schule emanzipiert. Mit der antiautoritären Tendenz stimmte ich zwar überein und sah auch einen großen Reform- und Demokratisierungsbedarf der Adenauer-Republik, aber die Vorstellungen der Studentenbewegung (von Marcuse, Adorno und Reich übernommen) fand ich unpolitisch und total illusorisch. Dass mit den Notstandsgesetzen eine Diktatur beginnen würde, habe ich nicht im Geringsten geglaubt. Den Vietnamkrieg habe ich auch anders gesehen. Ich war darüber besser informiert als die Aktivisten (der Vietcong war natürlich keine demokratische Bewegung), habe die amerikanische Intervention allerdings auch für unverantwortlich und katastrophal gehalten. Als Einzelkämpfer bin ich (manchmal zusammen mit ein paar Freunden) in Frankfurt gegen die Bewegung angegangen (auch mit selbst gemalten Plakaten zur Gegeninformation) und musste mich manchmal gegen handgreiflichen Eifer der anderen Seite wehren. Ich war nur kurz im Sozialdemokratischen Hochschulbund, weil dort dieselbe Ideologie herrschte wie im SDS. Bei den Grünen konnte ich mich dann später eher zu Hause fühlen, heute nicht mehr, seit sie humanitäre Interventionisten geworden sind. Insgesamt denke ich, dass der Studentenbewegung vieles zugeschrieben wurde, was eher Folge der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung war." (Leser "et")

"Wir waren jung! Wir wollten was bewegen, aber auch leben, wollten was sagen, die Musik von Jimmy Hendrix und die Mädels auf den Ostermärschen waren auch Ansporn und ein wichtiger Faktor in der Außendarstellung der 68er. Kann mich gut an die neidischen Blicke der Geschäftsleute auf Langhans und Co. erinnern. Historische Logik, Zeitgeist, Mode, wer kann das so genau auseinanderhalten?" (Ernst Horn)

"In der Zeit um 1968, als viele meiner Altersgenossen angefangen haben Karl May zu lesen, habe ich angefangen Karl Marx zu lesen und der Spontispruch von damals, 'Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt', ist für mich heute noch der Antrieb zum Denken und Handeln. Wir waren hungrig nach Wissen, was sich nicht auf Marx allein beschränkte und nicht nur für unsere persönliche Freiheit sind wir auf die Straße gegangen. Die Prügelstrafe in der Schule war für uns genauso wichtig wie Vietnam. Und der vermutlich seit dem Kaiserreich gleich stinkende Mief in unseren alten Schulen, Gerichtsgebäuden und Verwaltungen war so verwerflich wie die alte christliche Scheinheiligkeit und ihre Kungelei mit den Nazis. Die moralischen Grundprinzipien, die ich mir damals aus einer Mixtur meiner katholischen Erziehung, Aussagen der Französischen Revolution, Passagen der Marx-Engels-Werke, Platon oder auch Romanen von Hermann Hesse und Anna Seghers erarbeitet habe, gelten für mich noch heute! Nein, mit 20 Jahren haben wir noch nicht an die Rente gedacht und Widerstand war für uns nicht nur Aufgabe, sondern Pflicht. Wenn ich mir da heute im Bus die Schüler anschaue, die da geschniegelt und gebügelt in Designerklamotten gebückt über ihren Smartphones sitzen und offensichtlich hoffen, auf dem Weg des geringsten Widerstands durchs Leben zu rutschen, dann möchte ich doch ketzerisch für die Wiedereinführung der Prügelstrafe plädieren, dass auch diese Generation wieder einen Sinn bekommt für etwas zu kämpfen, nämlich für ihre Freiheit! Das würde auch unserer von Parteiräson degenerierten Demokratie wieder guttun." (Leser "Merkwurden911")

"Ihnen verdanke ich die tolerante, offene, solidarische und freie Lebensweise"

Andere Leser waren nicht selbst dabei, kamen aber über den Familien- oder Freundeskreis in Berührung mit der 68er-Generation:

"Ich war zu jung ... Ich kenne (na, er verstarb leider letztes Jahr plötzlich) jemanden, der oft davon erzählte, wie er mit Benno Ohnesorg Skat spielte, wie er völlig unbehelligt vom Staatsschutz in dem VW-Bus (an der Zonengrenze in Berlin) lebte, mit dem man damals auf den Demos die Polizei beobachtete, und den die Kommunarden in Berlin damals scherzhaft Vater (weil er älter war als sie) nannten ... Ich nannte ihn immer 'den Weisen vom Berg'. Ein Mann, der schon lange vor den Hippies in Afghanistan und Indien war, der Bhagwan in einer Kneipe in Delhi traf, als der dort, wie er es immer nannte, rumschwadronierte, wie er den Menschen im Westen das Glück bringen wollte. Und noch viel mehr... Eine seiner wichtigsten Mahnungen war immer: 'Das was man tut, darf nicht mehr Schaden anrichten, als wenn man es nicht tun würde.'" (Ulli Pesch)

"Ich, Jahrgang 84, bin da negativ eingestellt. Als Schüler musste ich das Meinungsdiktat einiger Lehrer aus der Ecke ertragen (inklusive schlechter Noten bei abweichender Meinung), außerdem sind die 68er nach dem Marsch durch die Systeme heute genauso festgefahren in ihrem Weltbild und schießen gegen andere wie wohl früher die Konservativen. Es wird dringend Zeit, dass heute der Mief der 68er ausgekehrt wird. Das System frisst wohl jede Generation irgendwann." (Leser "BlackSun84")

"Ich möchte ein Familienmitglied erwähnen, das in dieser Zeit NICHTS ausgelassen hat. Viel demonstriert, in einer regionalen Beat-Band Gitarre gespielt, freie Liebe und viele Drogen und etwas studiert. Dann Familie gegründet, irgendwann ein Haus gebaut. Den Rest seines Lebens hat er als Beamter auf einem Amt verbracht. Schade eigentlich." (Michael König)

Was bleibt von der 68er-Bewegung? Diese Frage haben wir in unsere Leserdiskussion gestellt und positive wie negative Antworten erhalten. Die Leser erkennen die Bedeutung der politischen Errungenschaften und der sexuellen Revolution an. Eine Auswahl:

"Ohne die 68er würden wir nicht in einer modernen, aufgeklärten und offenen Gesellschaft leben! Die 68er haben maßgebend dazu beigetragen, dass der Muff unter den Talaren und der Mief der Adenauer-Jahre verschwunden ist!" (Thomas Renker)

"Es war die Initialzündung für eine liberalere und damit demokratischere Gesellschaft, die den Wesenskern unserer Verfassung, die Gleichwertigkeit aller Menschen, stärker in den Blick genommen hat." (Nils Gerster)

"'Wer zweimal mit derselben pennt, gehört bereits zum Establishment' ... Die sexuelle Revolution gehört meiner Meinung nach zur wichtigsten Errungenschaft der 68er-Bewegung." (Béatrice Brunacchi)

"Ich bin den starken Kämpfern dieser Generation überaus dankbar. Ihnen verdanke ich die tolerante, offene, solidarische und freie Lebensweise, die ich heute führen kann. Alles ist zur Diskussion gestellt worden in dieser Zeit. Nicht alle Diskussionen sind in eine - aus heutiger Sicht - richtige oder gute Richtung gegangen. Aber allein DASS alles hinterfragt wurde, hat für viele äußerst wichtige Themen überhaupt erst ein Bewusstsein in einer breiteren Bevölkerung geschaffen und dazu geführt, dass vieles heute sehr viel positiver läuft als vor den 68ern. Dazu gehört vor allem die Emanzipation der Frauen, aber auch die Befreiung der Wissenschaft, die Erhaltung von Lebensräumen, die Lockerung vertrockneter Strukturen, das Verabscheuen von Krieg und Gewalt, der Respekt vor dem Leben oder die Toleranz der Verschiedenartigkeit. Leider hat 'das System' viele Errungenschaften dieser Zeit inzwischen wieder einkassiert oder in eine andere Richtung umgelenkt und in großen Teilen der Gesellschaft Solidarität durch Egoismus ersetzt." (Leser "Strandläufer")

"Es ist so was von lächerlich, wie heute manche über die Zeit herziehen, die selber gar nicht dabei oder zu jung waren. Ohne diese Jahre würde Deutschland heute noch brauner aussehen, als es schon tut. Es waren damals noch genug Alt-Nazis in Führungspositionen, selbst Minister, Kanzler und ein Ministerpräsident, der noch in den letzten Tagen des Krieges Todesurteile gesprochen hat, waren an der Macht. Nur durch die 68er kam alles ans Licht. Ein Brandt wäre nie Bundeskanzler geworden ohne die 68er. Es wurde mehr Demokratie gewagt. Und heute sind es die Konservativen, die alles wieder zurückschrauben - unter dem Begriff Sicherheit, was in Wahrheit wieder mehr Überwachung heißt." (Reiner Gegenheimer)

"Wir haben ein wenig Änderung bewirkt, das meiste ist steckengeblieben oder wir haben es selbst vor die Wand gefahren. Heute wäre eine weltweite 68er-Bewegung nötiger denn je!" (Burkart B.)

Was von den 68ern bleibt
68er Revolte

Vom tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg über die Massendemonstrationen bis zum blutigen Terror der RAF: SZ-Texte, Interviews und Fotos zur 68er Bewegung finden Sie hier.

  • Vietnam-Demonstrationn im Februar 1968 in Berlin Von der Notwendigkeit sich zu engagieren

    RCDS, SPD, Linke. Student, Mittelbau, Alt-68er: Drei Generationen, drei politische Einstellungen. Was bleibt von der Studentenrevolte - und was können wir von 1968 lernen?

  • Rainer Langhans die uns die 68er hinterlassen haben

    Befreite Sexualität, Rock, Kinderläden, Reformunis, Emanzipation, Drogenexperimente, linker Terrorismus. Das wahre Erbe der 68er.

  • Vietnam Demonstration Rudi Dutschke Erich Fried "Eine falsche Vorstellung von Freiheit"

    Sozialphilosoph Oskar Negt im Gespräch über den Tod von Benno Ohnesorg heute vor 50 Jahren, die Studentenbewegung von 1968 - und ob ihm die AfD und Trump den Optimismus ausgetrieben haben.

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