Leipzig:Viel Herz, wenig Geld

Weiße Elster, Blick von der Industriestraße, ehemalige Buntgarnwerke, Leipzig, Sachsen, Deutschland *** Weiße Elster, vi

Schön präsentiert sich Leipzig an der Weißen Elster, doch in manchen Vierteln wächst die Armut.

(Foto: Gabriele Hanke/Imago Images)

Nicht alle Einwohner profitieren vom Boom in der Stadt. Eine Bürgerstiftung will das ändern - trotz zahlreicher Hindernisse.

Von Benjamin Haerdle

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Es bot sich kein schöner Anblick, damals in Leipzig im Jahr 1986: Die Fassaden vieler Häuser grau, verfallen und zerstückelt, kleine Birken auf den Dächern sprießend. "Es war schmutzig, und ich dachte, ich will hier keine Minute länger bleiben." So schildert Angelika Kell ihre ersten Eindrücke, als sie aus dem beschaulichen Apolda zum Studium nach Leipzig kam. Doch gleichzeitig herrschte in der Messestadt damals eine Aufbruchsstimmung. Davon ließ sich auch die gebürtige Thüringerin mitreißen - sie nahm an Protesten gegen die Umweltverschmutzung teil. Letztlich führte ihr Engagement dazu, dass sie heute einer Bürgerstiftung vorsteht, die das Miteinander in Leipzig stärken will.

Leipzig: Angelika Kell war Mitgründerin der Stiftung "Bürger für Leipzig".

Angelika Kell war Mitgründerin der Stiftung "Bürger für Leipzig".

(Foto: Stadt Leipzig)

Zunächst nahm sie nach dem Abschluss des Studiums der Politikwissenschaften beim 1989 gegründeten Leipziger Umweltbund, den Ökolöwen, die ersten eigenen Projekte in Angriff. So baute sie damals einen Tauschring für Dienstleistungen in Leipzig auf, beispielsweise einmal Haareschneiden gegen Fensterputzen oder gegen ein Catering. "Wir hatten viele Ideen für eine nachhaltige Stadtentwicklung: eine Freiwilligenagentur, die Anlage von Gemeinschaftsgärten, der Aufbau eines Carsharing-Netzes in allen Stadtteilen. Unsere Überlegung war immer: Was braucht es, um aus Leipzig eine zukunftsfähige Stadt zu machen?"

Eine große Frage, die sich viele Städte mehr als 20 Jahre später angesichts der Klimaerwärmung und des demografischen Wandels erneut stellen, um sich für die Zukunft zu wappnen. An guten Ideen und an hilfsbereiten Menschen, die sich engagieren wollten, mangelte es Ende der 90er-Jahre nicht. "Es fehlte aber schlicht das Geld, um neue Dinge im größeren Stil umzusetzen."

Mit der Aktion "Unbezahlbare Träume" finanzierte man einen Fahrstuhl

Also gründeten Angelika Kell und andere engagierte Personen aus der Nachhaltigkeitsinitiative "Lokale Agenda 21" eine Bürgerstiftung. "Leipzig soll eine nachhaltige Stadt werden, in der sich Bürgerinnen und Bürger mit Zeit, Geld und Ideen an einer Stadtentwicklung in den Bereichen Bildung, Umwelt und Soziales beteiligen können", so fasst die Mitgründerin die Präambel der schließlich im Jahr 2003 ins Leben gerufenen "Stiftung Bürger für Leipzig" kurz zusammen. In der Bürgerstiftung sollen sich jene Menschen einbringen können, die der Stadt für etwas dankbar sind, die ihr etwas zurückgeben wollen und die bereit sind, Teile des eigenen Vermögens zu investieren.

Die ersten 17 000 Euro warb die Stiftung für den Stadtverband der Hörgeschädigten ein. Der Organisation wurde bei der Sanierung ihres dreistöckigen Gebäudes vom Bauunternehmer mitgeteilt, dass der ursprünglich geplante Aufzug aus Kostengründen nicht umgesetzt werden könne, obwohl das Haus eigentlich barrierefrei für Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen geplant worden war. Um den Fahrstuhlbau zu finanzieren, versteigerte die Stiftung in einer Benefiz-Auktion "unbezahlbare Träume". Zum Beispiel den Traum, eine Nacht im Kaufhaus zu verbringen oder als Komparse in der MDR-Serie "In aller Freundschaft" aufzutreten.

"Wir wollen, dass sich die Leipziger aus freien Stücken engagieren"

Solche einmaligen Aktionen wurden im Laufe der Zeit von Projekten abgelöst, die mehr auf Langfristigkeit setzen. "Musik macht schlau" ist eines dieser charakteristischen Projekte, mit denen die Stiftung gemeinsam mit dem Verein "GeyserHaus" seit 2008 die musikalische Bildung von Kindern fördert. Kinder, deren Eltern das Geld für den Musikunterricht fehlt, können so für mindestens ein Jahr ein Instrument lernen oder Gesangsunterricht nehmen. Schon mit zehn Euro können sich Spender an dem Projekt beteiligen. "Jeder kann etwas gegen die Bildungsbenachteiligung tun, selbst wenn der Geldbeitrag klein ist. Machen das viele Menschen über viele Jahre gemeinsam, wird das große Ganze sichtbar." Angelika Kell, die seit 2008 als Vorstand an der Spitze der Bürgerstiftung steht, hat den Anspruch, dass die Projekte Kontinuität haben. Und Engagierten soll die Möglichkeit geboten werden, dass sie im Lauf der Jahre durch anfangs kleinere, später vielleicht mal größere Beiträge Vertrauen in die Stiftung fassen. "Wir drängeln niemanden zu einer Spende oder einer Zustiftung, sondern wir wollen, dass die Leipziger sich aus freien Stücken und möglichst langfristig engagieren."

Fast 170 Stifterinnen und Stifter zählt die Bürgerstiftung mittlerweile, darunter aber lediglich sechs Unternehmen, die einmalig 5000 Euro gespendet haben. Das mag erstaunen für eine Stadt mit 600 000 Einwohnern, die seit Jahren als Boomtown gilt, deren Innenstadt sich mit schmucken Höfen herausgeputzt hat, die große Unternehmen wie DHL, Amazon oder BMW angelockt hat. "Von dem großen Hype um Leipzig profitieren wir nicht viel", gesteht Angelika Kell. Im Unterschied zum Westen Deutschlands fehle hier der Mittelstand, und damit fehlten jene Firmen, bei denen der Chef nach einem erfolgreichen Jahr auch mal sagt: Dieses Jahr haben wir gut verdient, lass uns mal was Gutes tun. "Die Nöte vieler Firmen kann ich schon gut nachvollziehen, die müssen auch schauen, dass sie genug Aufträge reinholen", sagt die 56-Jährige, die schon mal ein Jahr lang jeden Dienstag um sieben Uhr mit lokalen Firmenchefs gefrühstückt hat, um Kontakte aufzubauen. Doch resigniert wirkt sie deswegen nicht.

Dass es anderswo deutlich leichter ist, das Stiftungsvermögen aufzubauen, ist ihr auch klar. Sie erzählt von einer Kollegin aus einer westdeutschen Stadt mit 50 000 Einwohnern, die über einen Stiftungsvermögen von 7,5 Millionen Euro verfügt. "Ich würde mir natürlich auch mal wünschen, dass ich morgens das Büro betrete und jemand mit mir über seinen Nachlass reden möchte." Doch bislang schloss sie morgens das Büro am Dorotheenplatz im Leipziger Zentrum immer auf, ohne solch einer Person zu begegnen.

Ermutigen lässt sie sich davon aber keineswegs. Etwa 300 000 Euro haben die Leipziger bisher als festes Stiftungskapital zusammengetragen, und immerhin: Trotz der Corona-Pandemie hat die Stiftung allein im vorigen Jahr an die 100 000 Euro an Spenden, Zuschüssen und Preisgeldern eingeworben. So knapp das Geld manchmal auch ist, an neuen Ideen mangelt es der Stiftung nicht, auch weil die Probleme der Stadt allen öffentlichen Jubelarien zum Trotz nicht verschwinden.

In manchen Stadtteilen wächst die Armut

Da reicht der Stiftungschefin ein Blick in den Sozialreport. "In manchen Leipziger Stadtteilen verfestigen sich die Armutsverhältnisse, da die Menschen trotz Erwerbsarbeit so niedrige Einkommen erzielen, dass es ohne staatliche Hilfen nicht zum Leben reicht und schon gar nicht dafür, den Kindern Musikunterricht zu ermöglich, sie ins Ferienlager zu schicken oder gar finanzielle Rücklagen zu bilden", sagt sie. Natürlich könne die Stiftung diese Mängel nicht beheben, aber sie könne helfen - zum Beispiel mit dem Projekt "Die Wunderfinder", bei dem ehrenamtliche Paten jedes Jahr rund 100 Grundschulkinder mit nicht so guten Startbedingungen mitnehmen auf Exkursionen in ein Unternehmen, ein Museum oder eine Buchhandlung. Damit soll die Persönlichkeit der Kinder gestärkt werden.

Doch Angelika Kell hat auch das Leid der Senioren im Blick, die in Pflegeheimen untergebracht sind. "Die Pfleger leisten ohne Zweifel eine tolle Arbeit, aber wenn die Angehörigen fehlen, werden gerade die ganz Alten oft nur aufbewahrt. Ihnen mangelt es an Abwechslung." Ihre Idee ist nun, das Projekt "Radeln ohne Alter" in Leipzig zu starten. Dabei werden ehrenamtliche Rikscha-Piloten, von denen die umtriebige Stiftungschefin zahlreiche gewinnen will, die Senioren in einer E-Rikscha auf eine Tour an die frische Luft mitnehmen.

Angelika Kell und die vielen ehrenamtlich engagierten Stifter können mit ihrer Kreativität Projekte anstoßen, weil die Bürgerstiftung im Unterschied zu den meisten der 170 weiteren Stiftungen in Leipzig einen breit gefassten Stiftungszweck hat. Die Stiftung kann so flexibel agieren, um aktuelle Nöte aufzugreifen oder vorausschauend zu agieren. Was Angelika Kell zum Beispiel sorgt, dass die Gesellschaft in Zukunft noch weiter auseinandertreibt und sich jeder ins Private zurückzieht, allein zu Hause vor dem Fernseher oder am Smartphone. Insbesondere in den ländlichen Regionen, wo typische Orte des Zusammenkommens wie das Gasthaus fehlen, sei das schon jetzt spürbar. "Wir als Stiftung wollen Räume schaffen für Menschen, die offen miteinander reden wollen", sagt sie.

Erzählen, wie es in Leipzig mal war: Dieses Angebot ist der Renner

Welchen Sog ein solches Gesprächsangebot erzeugen kann, hat sie erlebt bei den Erzählcafés, die die Stiftung 2019 gemeinsam mit der Stadtbibliothek veranstaltete. Raum, Kaffee und Kuchen buchte ihr Team damals für 30 Personen, die aus ihrem Leben in Leipzig in den Sechzigerjahren erzählen wollten. Monat für Monat kamen mehr, zum Schluss zählte Angelika Kell 130 Teilnehmende. "Der Zuspruch war unglaublich: Es fühlten sich offensichtlich Menschen angesprochen, die sich ansonsten im öffentlichen Diskurs nicht zu Wort melden", erzählt sie. Eine mögliche Idee zur baldigen Wiedervorlage, denn, so Kell, es könne nicht sein, in Zukunft nur noch im Internet über die Kommentarfunktionen unter Pseudonym zu kommunizieren. Das würde die Gräben in der Gesellschaft nur noch weiter vertiefen - und das will die Bürgerstiftung ja gerade verhindern.

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