Leben nach dem Amt:Die arbeitslose Kapitänin

Das Schlimmste nach ihrer Abwahl, sagt Heide Simonis, "war der leere Terminkalender". Nur langsam erholt sich Schleswig-Holsteins ehemalige Landeschefin vom schweren Schock des Machtverlusts.

Von Ralf Wiegand

Um zu ahnen, wie es jetzt ist, sollte man wissen, wie es vorher war. Vorher - das liegt kein Jahr zurück. Damals war Wahlkampf in Schleswig-Holstein, und Heide Simonis war allgegenwärtig.

Rote Litfass-Säulen hatte die SPD im Land zwischen den Meeren aufgestellt, an jeder Ecke begegnete sich die Regierungschefin selbst, ihrem Konterfei und dem einzigen Wahlkampf-Slogan der Partei: Heide! Sie schaffte mindestens ein halbes Dutzend Termine an einem Tag.

Eine schwarze Limousine chauffierte sie von Veranstaltung zu Veranstaltung. Wenn sie irgendwo ankam, flogen wie von Geisterhand alle Türen auf. Man reichte ihr den Kaffee ganz selbstverständlich so, wie sie ihn mag. Und wenn sie ging, klatschte ihr Publikum noch Beifall, als sie schon längst wieder verschwunden war.

Mindestens zwei Personenschützer vom Landeskriminalamt wachten stets in Sprungnähe über die Ministerpräsidentin. Manchmal rief sie ihre Sekretärin in Kiel an, die dann ein paar Einkäufe bestellte und nach Hause liefern ließ, damit etwas im Kühlschrank war, wenn sie heimkam.

Um eine freie Stelle in Heide Simonis' von Staatssekretärin und Pressesprecher verwaltetem Terminkalender zu bekommen, musste man zwei Wochen warten und womöglich irgendwohin reisen, wo sie gerade mal eine Pause machte. Das konnte Berlin sein oder Itzehoe.

Ein knappes Jahr später - Kiel, an einem sonnigen Wintermorgen im Januar. Ein Pseudonym an der Haustür und eine Videokamera über dem Klingelknopf, das ist alles, was von der Wichtigkeit geblieben ist. Auf das Läuten öffnet Heide Simonis die schwere Tür ihrer Altbauwohnung, sie schleicht auf Socken über den Holzfußboden.

"Ich will mich nicht vom Sessel kratzen lassen"

Ihr Mann taucht hinter ihr auf, lächelt freundlich und verschwindet sogleich in der Küche, um Kaffee für alle zu kochen. Ihr einziger Mitarbeiter ist krank und kann nicht kommen. Frau Simonis, es ist gerade kein Löffelchen zur Hand, rührt die Sahne im Kaffee mit dem Griff eines Fischmessers unter, Fächermuster, gerade bei Ebay ersteigert. Für so etwas hat sie jetzt Zeit.

"Eigentlich geht es mir sehr, sehr gut", sagt sie. Eigentlich. Das könnte auch heißen, dass es ihr einfach nur besser geht als damals, im März 2005. Heide Simonis, 62, hatte schon auf der Höhe ihres politischen Einflusses ehrlich darüber geredet, dass sie sich vor Macht- und Bedeutungsverlust fürchtete. Dass sie denjenigen nicht glaubte, die behaupteten, der Ausstieg aus der Macht sei pure Freude. Die einzige Möglichkeit, sich vor dem freien Fall zu bewahren, schien ihr zu sein, wenigstens den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, dem Tag X ein Datum zu geben. "Ich will mich nicht vom Sessel kratzen lassen", sagte sie.

Und dann war sie doch die Pattex-Heide. Klebte am Stuhl wie eine alte Königin am Thron. Sah Mehrheiten, wo keine mehr waren. Wollte mit einer tolerierten Minderheitsregierung die Macht bewahren. Wurde abgewählt im Parlament, von jemandem aus der eigenen Fraktion, wurde öffentlich gedemütigt. Man könnte auch sagen: davongejagt. Sie sagt, sie habe sich ein Vierteljahr daran gewöhnen müssen, "dass mir das passiert ist".

Es hätte so viele sanftere Wege gegeben, aus dem Berufsleben befördert zu werden. Der Wähler hätte ein klares Votum gegen Heide Simonis aussprechen können am 20. Februar 2005, aber er hielt alles offen. Die Wahl zu verlieren, "hätte ich akzeptieren können", sagt sie. Darauf bereiten sich Politiker vor wie Schüler auf die Zeugnisausgabe - man ahnt ja, wenn die Versetzung gefährdet ist. Sie hätte auch klar gewählt werden können, dann hätte sie nach zwei Jahren die geordnete Übergabe an den jetzigen Innenminister Ralf Stegner organisiert. "Den Plan gab es", sagt Heide Simonis.

Irgendwann ruft keiner mehr an

Vielleicht hätte sie irgendwann zwischen der Wahl des Volkes und ihrer gescheiterten Regierungsbildung, irgendwann zwischen dem 20. Februar und dem 17. März, einfach nur loslassen sollen. Aber dafür hätte sie eine Perspektive haben müssen - für das Leben danach. Hatte sie aber nicht: "Ich sah mich Handarbeiten machen, hier mal was wegräumen, da mal auf den Flohmarkt gehen. Geradezu erschreckend."

Für Politiker gleicht das Ende ihrer Laufbahn oft einer fristlosen Kündigung. Finanziell mögen sie weicher fallen, aber emotional geht es ihnen nicht anders als einem Arbeiter, der wegrationalisiert wird. Plötzlich fehlt dem Tag der Rhythmus, Kollegen drücken erst ihr Bedauern aus, dann rufen sie nur noch selten an; irgendwann machen sie alleine weiter in ihrer Arbeitswelt. Soziale Kontakte nehmen ab. "Von heute auf morgen werden Sie nicht mehr eingeladen", sagt Heide Simonis. "Das wissen Sie zwar, aber das müssen Sie erst mal erleben."

Dazu kommt die eigene Unsicherheit im Umgang mit denen, die sich Nachfolger nennen. Heide Simonis hat kein großes Problem mit Peter Harry Carstensen, dem neuen Ministerpräsidenten, der die erste und nach wie vor einzige Frau an der Spitze einer Landesregierung abgelöst hat. Er hat sie ja nicht besiegt, sondern der "Heide-Mörder", ein abtrünniger Genosse, hat sie gemeuchelt. Und doch saß Heide Simonis neulich in der schleswig-holsteinischen Landesvertretung in Berlin und trank eine Tasse Kaffee, als Carstensen hereinkam. "Ich trinke von Deinem Kaffee, das darf ich doch wohl", sagte sie, ein bisschen zu spitz und sehr unsicher. "Heide, Du darfst so viel Kaffee trinken wie Du willst", antwortete Carstensen. Die beiden kennen sich seit 30 Jahren.

Carstensen hat jetzt all das, was bis vor kurzem noch Heide Simonis gehörte. In Dänemark wurde er neulich fast wie ein Staatsgast empfangen und sogar zur Königin vorgelassen, was seiner Vorgängerin nie vergönnt war. Der erdige CDU-Ministerpräsident ist ein gutmütiger Mann von der Küste, der das Herz bisweilen auf der Zunge trägt. Heide Simonis empfiehlt er vorsichtig, endlich mit der Suche nach dem Abweichler aufzuhören: "Entweder, sie nennt Namen, oder sie lässt es. Ich würde gar nicht wissen wollen, wer es war. Wie sollte ich mit so jemandem umgehen?"

Verständnis für Schröders Auftritt

Jeder in Kiel weiß, wie groß die Distanz geworden ist zwischen der einst unumstrittenen Frontfrau, die allzu gern Täterprofile erstellt, ohne konkret zu werden, und ihrer Partei. "Sie laden mich ein und respektieren, wenn ich absage", sagt sie.

Heide Simonis ist in nur elf Monaten so privat geworden, wie man es nie für möglich gehalten hätte, als sie bei Beckmann vor Millionen Fernsehzuschauern den Verzicht auf die Staatskanzlei zugunsten von Carstensen provozierend weit von sich wies: "Und wo bleibe ich?" Sie sei damals müde gewesen, ausgezehrt vom Wahlkampf. Da wähle man, obgleich überzeugt vom Inhalt, manchmal die falsche Form. Sie konnte deshalb nachvollziehen, wie es Gerhard Schröder am Abend der Bundestagswahl ging, als er Rodeo durchs Fernsehstudio ritt. "Du denkst, Du hast verloren, dann steigt die Kurve doch immer höher, dazu das Adrenalin." Schon sieht man sich als Sieger, während andere Nachrufe schreiben.

Heute sitzt die Frau, ohne deren berufliches Schicksal es wohl keine Neuwahlen und keinen Kanzlersturz in Deutschland gegeben hätte, gut erholt in ihrer Kieler Stadtwohnung. Sie wird das Spektakel vom 17. März, die vier Wahlgänge, an die sie größtenteils keine Erinnerung mehr hat, nie als legitimen politischen Vorgang akzeptieren können. Aber aus dem Gröbsten ist sie raus. Sie ist jetzt im Vorstand von Unicef, sie bereist Afrika wie damals, 1967, als sie sich in Sambia für Entwicklungspolitik zu interessieren begann.

Sogar manche Insignien der Relevanz kehren zurück. Zur Unicef-Amtseinführung wurden Fotos gemacht von Heide Simonis am Ruder eines Bootes, mit Kapitänsmütze. Wieder an Deck, sagten die Bilder; immer noch prominent, sagten andere Fotos mit Radstar Jan Ullrich. Das Schlimmste nach ihrer Abwahl, sagt sie, "war der leere Terminkalender". Jetzt hat sie wieder Pflichten, reist nach Hamburg, Berlin und Leipzig, demnächst nach Pakistan. Die Aussicht auf Unicef habe sie aufgefangen, "das Angebot kam sehr früh". Hochpolitisch sei die Aufgabe, international, und sie hat sogar ein bisschen Glanz und Glamour durch die Galas und die prominenten Botschafter, die für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen werben. "Da sitze ich dazwischen, gucke mir das alles an und sag': Ach nee, am Nebentisch: Clooney!"

Sogar einen "Chauffeur" hat sie wieder. Als sie das erste Mal nach dem Abschied von ihrem Dienstwagen selbst am Steuer saß, bekam Heide Simonis prompt ein Knöllchen, 35 Euro. Zum nächsten Termin fährt sie ihr Mann.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: