Lateinamerika:"Glück ist eben nicht das Gegenteil von Armut"

Lateinamerika: Uruguays Ex-Präsident José Mujica. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung war er zuletzt in Deutschland.

Uruguays Ex-Präsident José Mujica. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung war er zuletzt in Deutschland.

(Foto: AFP)

Als Präsident Uruguays wurde José Mujica zu einem Idol der lateinamerikanischen Linken. Im Interview spricht er darüber, was in Venezuela und Brasilien falsch läuft - und warum er die Deutschen für unglücklich hält.

Interview von Benedikt Peters

Als José Mujica 2010 Präsident von Uruguay wurde, zog er nicht in den Präsidentenpalast, sondern blieb auf seiner einfachen Farm wohnen, am Rande der Hauptstadt Montevideo. Seine Regierung legalisierte als erste in Lateinamerika den regulierten Verkauf von Marihuana, zudem die Homoehe. Bis heute spendet Mujica, den alle nur "Pepe" nennen, einen Großteil seines Gehalts für Sozialprogramme und fährt einen alten VW-Käfer. So wurde der Ex-Guerillero, der als junger Mann 14 Jahre im Gefängnis verbrachte, zu einer Galionsfigur der lateinamerikanischen Linken. 2015 endete seine Präsidentschaft, seitdem ist der 81-Jährige Senator. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung kam er Ende Juni nach Deutschland.

SZ: Herr Mujica​, als Sie 2011 auf Staatsbesuch hier waren, haben Sie gesagt, das Reisen strenge Sie sehr an. Warum sind sie trotzdem wiedergekommen?

José Mujica: Ich war gerade in Oxford an der Universität und habe mit einigen Studenten über die Zukunft geredet. Das erschien mir wichtig, immerhin sind das die Leute, die unsere Gesellschaften bald lenken werden. Ich komme nicht so oft nach Europa, dazu ist Uruguay zu weit weg. Also habe ich die Gelegenheit genutzt, um auch in Deutschland vorbeizuschauen.

Was haben Sie den Studenten in Oxford gesagt?

Es reicht nicht, sich reinzuhängen, damit die Wirtschaft wächst. Man muss für etwas anderes kämpfen: für den menschlichen Fortschritt. Dafür, dass man glücklich ist. Ich war in vielen Ländern, die technisch sehr weit entwickelt sind. Aber ich hatte dort oft das Gefühl, dass die Leute nicht glücklich sind. In Japan zum Beispiel.

Und Ihr Eindruck von Deutschland?

Der ist leider der gleiche. Viele Deutsche scheinen irgendwie nicht im Reinen mit sich zu sein. Sie wirken, als hätten sie Angst, etwas zu verlieren.

Wie meinen Sie das?

Schauen Sie, Deutschland geht es wirtschaftlich gut. Aber es gibt trotzdem viele prekäre Arbeitsplätze. Viele wissen nicht, wie es in Zukunft weitergeht. Ich glaube, dass viele Menschen deswegen verstärkt konservative Parteien wählen. Das ist ein Zeichen, dass die Leute nicht glücklich sind. Glück ist eben nicht das Gegenteil von Armut. Das Wachstum allein, das Bruttosozialprodukt und die Außenhandelsbilanz, das macht niemanden glücklich.

Was fehlt aus Ihrer Sicht?

Dass sich die Leute mehr Zeit nehmen für die einfachen und schönen Dinge im Leben. Einem Vogel beim Fliegen zusehen und Freude daran haben. Einem Hobby nachgehen, das einem Spaß macht, auch wenn man damit kein Geld verdienen kann. Das Wichtigste ist Zeit. Die Leute sollten Zeit mit ihren Kindern verbringen, mit ihren Partnern, und nicht nur arbeiten.

Was sind die kleinen Dinge, die Ihnen Freude bereiten?

Ich fahre Traktor und züchte Blumen, immer dann wenn ich Zeit habe. Ich brauche diese Arbeit mit den Händen, den Kampf mit den Ameisen, die einen zwicken. Aber ich mache keinen Hehl daraus - ich komme selten dazu. Ich bin ein alter Mann, der der Politik verfallen ist, das ist meine Leidenschaft. Das ist das Wichtigste. Die Leute brauchen eine Leidenschaft.

Sie sind eine der wichtigsten Figuren der lateinamerikanischen Linken. Um die ist es in letzter Zeit schlecht bestellt: In Argentinien und in Brasilien hat sie die Macht verloren, in Venezuela steht Präsident Nicolás Maduro mit dem Rücken zur Wand. Was haben diese Regierungen falsch gemacht?

Ich glaube, dass es an manchen Orten zu viel Korruption gegeben hat. Das hat das Vertrauen der Leute erschüttert.

"Jetzt müssen die Jüngeren übernehmen"

Wo zum Beispiel?

Nehmen Sie Brasilien. Dort ist die Sache sehr kompliziert. Ich glaube, dass man die brasilianische Verfassung verändern müsste, weil sie Korruption begünstigt. Im Parlament sitzen mehr als 30 Parteien und mehr als 500 Abgeordnete. Um Politik zu machen, muss man ständig mit sehr vielen Leuten verhandeln. Wenn du ein Gesetz durchbringen willst, sagen sie: "Okay, ich gebe dir meine Stimme, aber dafür musst du mir bei einem Brückenbauprojekt helfen." Das ist eher eine Börse als ein Parlament. Es fördert die Korruption. Das Ironische ist, dass die Präsidentin Dilma Roussef selbst ja wahrscheinlich gar nicht korrupt war, sondern vor allem die Politiker ihres Koalitionspartners, die sie dann gestürzt haben. Das System im Parlament hat das begünstigt.

Und in Venezuela? Sie haben zuletzt gesagt, der venezolanische Präsident Nicolas Maduro sei "verrückt wie eine Ziege".

Ja, er ist noch immer eine verrückte Ziege. Ich respektiere ihn, aber er ist zu impulsiv. Was Maduro gesagt hat, stimmt einfach nicht. Er hat behauptet, Luis Almagro (der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, der zuletzt Partei für die venezolanische Opposition ergriff, Anm. d. Red.) sei ein Agent der CIA. Ich bin auch kein großer Fürsprecher Almagros. Aber ein Agent ist er sicher nicht. Maduro würde gut daran tun, sich nicht ständig in die Weltpolitik einzumischen. Mit seinem Gerede von der US-Verschwörung schürt er nur die Paranoia innerhalb Venezuelas.

Was sollte er stattdessen tun?

Über kurz oder lang werden die Regierung und die Opposition nicht darum herumkommen, zu verhandeln und sich zu einigen. Außerdem sollte sich die Regierung um ihre wirtschaftlichen Probleme kümmern. Venezuela braucht weniger Richter und mehr Maurer. Das Land hat fantastische Ressourcen, vor allem Erdöl, aber es gibt kaum Bauern. Die Venezolaner haben sich daran gewöhnt, Lebensmittel zu importieren - und zwar fast nur hochwertige Produkte. Pasta aus Italien, feines Toilettenpapier, Whisky. Obwohl sie selbst einen fantastischen Rum machen können. Aber die Venezolaner wollten Whisky. Diese Entwicklung begann vor 60, 70 Jahren. Es ist keine leichte Aufgabe, das zu verändern. Aber man müsste es angehen. Denn man sieht ja gerade: Wenn der Ölpreis niedrig ist, funktioniert das System nicht.

Die Zustände in Venezuela sind chaotisch, die Suspendierung von Dilma Rousseff in Brasilien aus demokratischer Sicht mindestens zweifelhaft. Halten Sie es für möglich, dass die Diktaturen in Lateinamerika zurückkehren?

Nein, das glaube ich nicht. Es mag den einen oder anderen Rückfall geben, aber kein diktatorisches Zeitalter mehr wie in den 1960er bis 1980er Jahren.

Warum nicht?

Weil sie nur stören würden. Die Diktaturen wurden früher oft von Wirtschaftsinteressen gestützt. Heute aber braucht sie die Wirtschaft nicht mehr. Für sie sind die heutigen Demokratien viel sinnvoller, denn in ihnen haben Unternehmer und Lobbyisten viel Einfluss. Aber das heißt nicht, dass es in Lateinamerika keine Probleme mehr geben wird. Im Gegenteil, es wird etliche geben.

Welche?

Es gibt zu wenige Jobs. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wächst weiter und weiter, die Politik tut zu wenig dagegen. Die demokratischen Systeme kranken daran, dass die Lobbyisten zu viel Einfluss haben. Viel zu oft profitieren sie von den Entscheidungen der Politik. Man muss es schaffen, das zu ändern, ohne die Demokratie gleich ganz abzuschaffen. Dafür brauchen wir eine neue linke Bewegung, eine mit Ideen für die Zeit, die da kommt. Die Idee der Umverteilung wird aktuell bleiben, aber vieles andere wird sich verändern. Meine Generation hat sich sehr auf die Fabrikarbeiter konzentriert. Jetzt aber arbeiten immer mehr Menschen im Dienstleistungssektor. Das ist nur ein Beispiel. Außerdem braucht es neue Ideen für die digitale Welt und wie man in ihr Demokratie leben kann.

Heißt das, die Zeit Ihrer Generation, die der linken Ex-Guerilleros, die in die Politik geht, ist abgelaufen?

Ja, und ich glaube, dass das gut ist. Ich spüre, dass da eine neue Zeit kommt, aber das ich nicht mehr richtig zu ihr gehöre. Ich bin schon ein alter Mann. Jetzt müssen die Jüngeren übernehmen.

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