Landtagswahl in Niedersachsen:Entscheidung in der Tiefkühltruhe

Niedersachsen wählt - und das bei Temperaturen von bis zu minus elf Grad. Damit geht ein Wahlkampf zu Ende, der mitunter kuriose Momente enthielt. Da ging SPD-Frontmann Weil schon mal vor dem politischen Mitbewerber in die Knie, verlor CDU-Ministerpräsident McAllister sein Dauerlächeln und FDP-Chef Rösler vor Freude die Beherrschung.

Von Oliver Das Gupta, Hannover

Samstagabend um zehn, der Wind peitscht Flocken über den Raschplatz hinter dem Hauptbahnhof Hannover. Es ist fast menschenleer hier, zwischen Spielbank und Großraumdiskos, aus denen tiefe Bässe dröhnen. Im Halbdunkel steht ein oranges Zelt, aus dem sich eine schmächtige Gestalt löst. Eingemummelt mit Mantel und Mütze stapft der junge Mann mit einem Becher und einer Chipstüte heran. "Hier, was Heißes zu trinken und zu knabbern", sagt er. "Und morgen unbedingt wählen!". Der Glühwein ist lauwarm, der Snack heißt "Wahlmampf" und besteht aus den Buchstaben C, D und U.

Ein paar Kilometer weiter, in Hannover-Linden, eine Stunde später. In der Kneipe "Baradies" drängeln sich junge Leute, viele tragen Schlabberkleidung und T-Shirts. Bundestagsabgeordneter und Student sind nicht zu unterscheiden. Bier und Bionade kosten hier einen Euro, im Séparée drehen sich Raucher ihre Zigaretten selbst. Die meisten aber tanzen ausgelassen zur Musik, die eine Frau mit hellblonden Haaren auflegt. Die DJane hüpft wild herum und heißt Claudia Roth. Mit ihrer Parteichefin am Plattenteller feiern die jungen Grünen die Nacht vor dem Tag, auf den so viele hingefiebert haben.

Gespannt richten sich die Blicke der Republik an diesem Sonntag auf Niedersachsen, wo die Bürger einen neuen Landtag wählen - und womöglich über Karrieren in Berlin entscheiden.

Von der Gunst der 6,1 Millionen Wahlberechtigten hängt ab, ob die FDP ihren bislang glücklosen Vorsitzenden Philipp Rösler schasst. Niedersachsen könnte auch für die SPD den Ausschlag geben, über ihren patzenden Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück nachzudenken.

Stelldichein der Politprominenz

Auch für die anderen Parteien ist die Wahl zwischen Harz und Nordsee ein wichtiger Indikator für die Bundestagswahl im September. Die Union kann sich trotz der Affäre um Ex-Ministerpräsident Christian Wulff an ihrer Stärke ergötzen, sorgt sich aber gleichzeitig um die existenzbedrohten Liberalen.

Die Grünen nehmen nach ihrem Höhenflug 2011 erneut Anlauf, zur kleinen Volkspartei zu wachsen. Linke und Piraten bangen um den Einzug ins Leineschloss und auch in den Reichstag - die internen Querelen haben beiden Parteien zugesetzt. Dazu kommen die möglichen Verschiebungen im Bundesrat, falls es zu einem Regierungswechsel kommen sollte.

Und so ist es kein Wunder, dass fast alles, was in der Bundespolitik Rang und Namen hat, in den vergangenen Monaten in Niedersachsen aufgetreten ist. Die SPD bot neben dem aus Niedersachsen stammenden Parteichef Sigmar Gabriel und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier fast die gesamte Spitzenriege auf, um Spitzenkandidat Stephan Weil zu helfen. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel kam alleine in der letzten Woche vor der Wahl mehrmals, um Ministerpräsident David McAllister von ihrer Popularität profitieren zu lassen.

Die Grünen boten ihren baden-württembergische Landesvater Winfried Kretschmann auf. Und für die Linke zog nicht nur Vizeparteichefin Sahra Wagenknecht durchs flache Land, sogar der griechische Linksaußenführer Alexis Tsipras warb für den Wiedereinzug der Linken in den Landtag.

"Das ist ja total geil"

Für die FDP trommelten viele populäre Köpfe, selbst der liberale Übervater Hans-Dietrich Genscher ließ sich am Freitagmorgen kurz in Hannover blicken. Was er am Wahlabend mache, wurde der Ex-Außenminister gefragt. "Am Wahlabend trink' ich ein Bier auf Sie", antwortete Genscher, den FDP-Spitzenkandidaten Stefan Birkner anblickend. "Oder auch zwei", sekundierte der ebenfalls anwesende Parteichef Rösler. Eigentlich witzig, zum Lachen war dennoch niemandem zumute. Gerade war bekannt geworden, dass FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle die vorgezogene Neuwahl der Parteiführung fordert - eine Attacke auf den angeschlagenen FDP-Vorsitzenden.

Einen Tag später steht der Bundeswirtschaftsminister zur selben Zeit am selben Platz. Es ist kalt wie in einer Tiefkühltruhe, Rösler friert sichtbar in seiner abgewetzten Jeans. Gute Laune scheint er dennoch vermitteln zu wollen. "Wissen Sie schon, was sie wählen?", ruft er und eilt mit großen Schritten auf Passanten zu, um ihnen Broschüre samt gelb-blauem FDP-Kugelschreiber in die Hand zu drücken, später gelbe Rosen. So macht er das mit Eltern mit Kinderwagen, Frauen im Pelz. Das kommt durchaus gut an.

Länger spricht er mit einem älteren Mann, der in seiner leuchtend orangen Müllabfuhrkluft vor ihm steht. Dann taucht Ralph Lange auf und Rösler fällt ihm in die Arme: "Das ist ja total geil, dass du da bist", entfährt es dem Vizekanzler, der dabei wie ein Fünfzehnjähriger klingt. Lange, der in den Neunzigern die Jungen Liberalen (Julis) führte, ist extra aus Frankfurt angereist. Er bittet den Reporter noch, ein Bild zu machen von Rösler und ihm - und twittert es.

Digitaler Wahlkampf am Sonntag

Eine Gehminute weiter haben gleich drei Parteien ihre Stände aufgebaut. Am Kröpke, dem Platz an der altehrwürdigen Uhr im Herzen Hannovers, trinkt David McAllister einen Kaffee aus dem Pappbecher. "Jetzt müssen wir mal ran an die Wähler", sagt er und wirft seiner Sozialminister Aygül Özkan sein McAllister-Lächeln zu. Der Ministerpräsident gibt sich optimistisch: Die Umfragen ziehen an, seine Popularität ist hoch, beim TV-Duell gegen SPD-Mann Weil machte er ebenfalls eine gute Figur. Auf den Konkurrenten angesprochen, gibt sich der Ministerpräsident präsidial. "In Niedersachsen gehen wir eben respektvoll miteinander um", sagt McAllister und schaut dabei ungewöhnlich grimmig, was wohl am beißenden Wind liegt und nicht am Hinweis, dass Milchschaum auf seiner Nase klebt.

Spitzenkandidaten der Landtagswahlen in Niedersachsen

Ob er sich abgesprochen habe mit Weil, denn der stehe keine dreißig Meter entfernt am SPD-Stand? Nein, sagt McAllister. Aber es ist eben Tradition so, dass am letzten Wahlkampftag alle nochmal zum Kröpke kämen. Nahezu identisch sagt den Satz auch Weil wenige Minuten später. Allerdings mit dem Zusatz: "Aber das bedeutet nicht, dass wir gleich kuscheln müssen." Hannovers Oberbürgermeister ist ebenfalls guter Dinge. Im Vergleich zum TV-Duell wirkt er geradezu gelöst. "Das wird schon klappen", sagt Weil.

Ganz so optimistisch ist nicht jeder Sozialdemokrat in diesen Tagen. Kopf an Kopf liegen Schwarz-Gelb und Rot-Grün, wobei SPD und Grüne in den letzten Monaten deutlich an Boden verloren haben. Ein Bündnis mit den Grünen, die zuletzt bei 13 Prozent lagen, hatte der seit 2010 regierende McAllister ausgeschlossen. Ein Patt wird es nicht geben, denn im Landtag wird es eine ungerade Zahl von Sitzen geben. Es geht also um alles oder nichts. Der Wahlkampf auf den letzten Metern ist bei der SPD entsprechend energisch. Die SPD buhlt bis zuletzt um die Anhänger von Linken und Piraten, die den Umfragen zufolge nicht ins Landesparlament kommen werden.

"Wenn wir es nicht schaffen, liegt es an der SPD"

Der digitale Teil des Wahlkampfes läuft noch bis in den Wahlsonntag hinein. Dafür sorgen nicht etwa die Piraten, deren Stände mit ungewöhnlich viel Werbung auf "Totholz", sprich: Papier bestückt sind. Die Jungen Liberalen werben mit "24 Stunden Freiheit leben" noch mit Live-Chats um Stimmen für die FDP. Die Grünen speisen im Rahmen ihres Formats "Drei Tage wach" Talkrunden ins Netz ein, ein vielköpfiges Team beantwortet in der Landesgeschäftsstelle Fragen vom Umgang mit der Linken bis zu Haltung der Partei zum Thema Wölfe.

Unangemeldet tauchte am Samstag auch SPD-Mann Weil im grünen Hauptquartier auf. Er hatte ein großes Wahlplakat für die Grüne-Spitzenkandidatin Anja Piel mitgebracht. Plötzlich geht der Sozialdemokrat vor Piel auf die Knie - um sein Konterfei für die "liebe Anja" zu signieren. Man finde sich schon sehr sympathisch. "Einmal, im Cafe, haben die uns sogar für ein Ehepaar gehalten", sagt Weil. Rote und Grüne, das gehe gut zusammen. Weil und Piel geben sich entspannt und lachen viel.

So viel Entspannung ist aber auch manchem Grünen suspekt angesichts des knappen Wahlausgangs. Nachts bei der Feier der Grünen Jugend, als DJane Claudia Roth die Musik auflegt, diskutieren zwei Parteifreunde über das, was passiert, wenn Schwarz-Gelb doch gewinnen sollte. "Eins muss dann klar sein", sagt der eine: "Wenn wir es nicht schaffen, liegt das an der SPD."

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