Landtagswahl in Baden-Württemberg:Kretschmann gibt den Robbie Williams

Winfried Kretschmann und Nils Schmid

Trägst du mein Rucksäckle, trag ich deins: Am liebsten würden Winfried Kretschmann und Nils Schmid wieder miteinander koalieren.

(Foto: dpa)

Sein CDU-Herausforderer Wolf wird vom eigenen Parteikollegen düpiert. Die SPD bibbert. Und AfD-Politikerin von Storch vergisst Entscheidendes. Eindrücke der letzten Wahlkampfstunden im Ländle.

Reportagen von Oliver Das Gupta und Josef Kelnberger, Stuttgart

Stuttgart am 13. März. Die ersten Stunden des Wahlsonntages sind die letzten Stunden des Wahlkampfes. Am Stuttgarter Schlossplatz vor der Bushaltestelle friert ein halbes Dutzend Jusos und versucht Kaffee, Kekse und Broschüren an Nachtschwärmer zu verteilen. Ein harter Job bei Temperaturen um den Gefrierpunkt: Nur wenige bleiben stehen, manche verspotten den SPD-Nachwuchs, einer fragt: "Habt ihr Koks?" Immerhin greifen viele Passanten einen Becher Kaffee ab.

Ein blonder junger Mann wankt heran. Er ist angetrunken, seine beiden Begleiterinnen quengeln, er verschüttet einen Teil des dampfenden Kaffees. "Ich hab den Wahlomaten gemacht", sagt er, "und es kam NPD raus." Er werde die natürlich nicht wählen, aber warum gerade die SPD? Ein Juso rattert Schlagworte herunter: "Kostenlose Bildung, Mietpreisbremse, Mindestlohn ..." Der Kaffeetrinker findet zwei Punkte gut, aber ihm fehlt ein dritter. "Ich schaff' in der Bank", sagt er und es klingt wie: Zu viel Soziales und ich - das geht nicht zusammen. Dann zerrt ihn eine Begleiterin weg, der Bus fährt sonst, es ist zwei Uhr morgens.

Weniger als sechs Stunden später öffnen die Wahllokale in Baden-Württemberg. Ein Urnengang beginnt, den Politiker und ihre Helfer unisono als "Schicksalswahl" titulieren. Der Ausdruck gehört zum traditionellen Verkaufsvokabular aller Wahlkämpfer vor allen Wahlen. Doch diesmal nennen die Aktiven der etablierten Parteien im selben Atemzug fast immer die Alternative für Deutschland (AfD). In Baden-Württemberg dürften die Rechtspopulisten mit einem zweistelligen Ergebnis erstmals in den Landtag einziehen.

Nürtingen am 11. März. Beatrix von Storch absolviert ihren letzten Wahlkampftermin bereits am Freitagabend. Der Saal der Sportgaststätte "Waldheim" ist steril ausgeleuchtet, einen anderen Veranstaltungsort hat die Partei nicht bekommen. Storch erhebt sich von ihrem Stuhl, geht in eine Ecke, zückt ihr Handy und fotografiert. Etwa 100 Menschen sind gekommen, deutlich mehr Männer als Frauen, viele Alte, viele Junge.

Von draußen dringen Rufe von Demonstranten. "Was mich besonders frustriert ist, dass die immer dieselben Sprüche schreien", sagt Storch zu Beginn. Seit sie politisch aktiv sei, würden sie manche Leute aus ihrem sozialen Umfeld nicht mal mehr grüßen. "Menschen, die mir nah waren, sind mir nun fern", sagt Storch. "Das ist schon ganz schön hart."

Storch schaut bei diesen Sätzen in Richtung der Fenster, die den Lärm nicht schlucken. Dann richtet sie ihren Blick gen Publikum und legt los. Die aktuelle Flüchtlingskrise sei noch nicht das Schlimmste, "das größte Problem kommt erst noch", sagt sie, und zwar "aus Afrika". In Europa sei neben Merkel die "größte Gefahr" der Chef der Europäischen Zentralbank "Mario-Goldmann-Sachs-Draghi". Und die Frauenquote würde am Ende dazu führen, dass eine "Haushaltspolizei" kontrolliere, ob der Mann 50 Prozent der Hausarbeit erledigt habe.

Storch zitiert aus einer Informationsbroschüre eine Passage über "frühkindliche Masturbation" als Beleg dafür, dass die etablierten Parteien Kinder sexualisierten. "Das sind Volker Becks, die sowas schreiben", ruft sie, "das ist pervers, sonst gar nichts." Wallung im Raum.

Was Storch bei ihrem Vortrag weglässt: Jörg Meuthen, den Co-Bundeschef der AfD und Spitzenkandidaten für Baden-Württemberg, nennt sie kein einziges Mal. Und sie lässt das Thema "Islam" aus. Vielleicht liegt es daran, dass Medien wenige Stunden vorher berichteten, dass Storch in vertraulichen Emails vorgeschlagen habe, die AfD als Anti-Islam-Partei aufzustellen.

Einer der älteren Nürtinger Zuhörer ist ein Mann mit Schnauzbart, gewinnendem Lächeln und einem schlecht sitzenden Toupet. Er will den Namen des Journalisten wissen, lässt ihn sich aufschreiben. Er selbst will anonym bleiben: "Ich kenne Sie ja nicht. Möglicherweise haben sie ja Verbindungen zur Antifa." Aber reden will er. Viel reden.

Pensionierter Richter sei er, Arbeitsrecht, Tausende Fälle. 1968 habe ihn politisiert, sagt er, seitdem sei er Mitglied der SPD, dabei bleibe es. "Ich bin ein Linker und werde diesmal die AfD wählen". Warum? Seine Partei würde Merkel stützen, die "Verfassungsbrecherin". Immer wieder wiederholt er das, als Jurist kenne er sich da schließlich aus. "Es würde mich wundern, wenn Sie das schreiben."

Den Rechtsruck der AfD, die fehlende Abgrenzung zum Rechtsextremismus - das hält der Mann für reine "Negativpropaganda der Medien". Seine AfD-Begeisterung stößt in seiner eigenen Familie auf wenig Gegenliebe. Seine Frau sei christlich, sagt er, und die Tochter Journalistin.

Ravensburg am 11. März. Ausgerechnet in Oberschwaben, alte Hochburg der CDU, beendet Winfried Kretschmann am Samstagabend seine große Wahlkampftour. Ausgerechnet in Ravensburg, nur wenige Kilometer von Weingarten entfernt, der Heimat seines Herausforderers Guido Wolf. Das ist eine letzte Kampfansage. Der ganze Abend in der Oberschwabenhalle ist ein Generalangriff auf die alte Hegemonialmacht von Baden-Württemberg. Zehn freche junge Blasmusiker in Lederhosen, die "Brasserie", machen Stimmung für die tausend Gäste und intonieren: "Let me entertain you."

Die oberschwäbische Kabarett-Truppe "Volksdampf" erklärt den Gästen, warum sie ausdrücklich keine Nummer über die CDU im Programm habe - weil es sich verbiete, Scherze auf Kosten von Minderheiten zu machen. So fühlt sich das neue Wir-Gefühl der selbsternannten "neuen Baden-Württemberg-Partei" an. "Wir haben in den vergangenen fünf Jahren Schwung in dieses ein wenig hüftsteife Land gebracht", sagt Manne Lucha, der bayerisch-stämmige grüne Landtagsabgeordnete aus Ravensburg. Jubel in der Halle.

Dann betritt Winfried Kretschmann die Bühne. Let me entertain you!

Landtagswahl 2016 - Kretschmann im Wahlkampf

Nimmermüder Wahlkämpfer: Winfried Kretschmann scheint mit seinen 67 Jahren den Parforce-Ritt der vergangenen Wochen glänzend überstanden zu haben.

(Foto: dpa)

Um die hundert Mal hat er in diesem Wahlkampf seine einstündige, staatstragende Rede gehalten. Das wäre nun, nur noch zwölf Stunden vor Öffnung der Wahllokale, ein Anlass gewesen, sich locker zu machen, launig zu werden. Auch seine Frau Gerlinde sitzt im Publikum. Vielleicht erlebt sie den letzten Auftritt ihres Mannes als Frontmann der Grünen - er will sich ja aus dem Landtag zurückziehen, sollte er nicht als Ministerpräsident wiedergewählt werden. Aber Winfried Kretschmann kennt "keine halben Sachen", so lautet auch einer seiner Wahlkampf-Slogans. Er bietet noch einmal das volle Programm seiner Welterklärungs-Road-Show 2016.

Vom pragmatischen Humanismus ausgehend, der ihn in der Flüchtlingspolitik leite, führt ihn sein rhetorischer Weg über die Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien weiter ins Silicon Valley und nach Peking und Shanghai, wo die Gegner Baden-Württembergs im Kampf um die Vorherrschaft in der Digitalisierung sitzen. Nach mehr als einer Stunde landet seine Rede schließlich im "von den Gletschern so lieblich ausgeformten" Oberschwaben.

Einerseits diese wunderbaren Landschaften Baden-Württembergs, andererseits dieser mächtige Industriestandort - wer, wenn nicht ein grüner Ministerpräsident, könne diese beiden Pole in der Balance halten? Auf seinem Rednerpult steht der Schriftzug: "Leidenschaft für die Sache". Egal, wie diese Landtagswahl ausgehen wird: Die Grünen haben ihren Spitzenmann in den vergangenen Wochen auf perfekte Art und Weise inszeniert.

"Man muss nicht in die Knie gehen vor den Rechten"

Winfried Kretschmann scheint mit seinen 67 Jahren den Parforce-Ritt der vergangenen Wochen glänzend überstanden zu haben. Die Rolle des Weltenerklärers ist ihm auf den Leib geschneidert, und nur zwei kleine Attacken auf seinen Herausforderer Guido Wolf leistete er sich: Dass der CDU-Kandidat gemeinsam mit Julia Klöckner kurz vor dem EU-Gipfel mit der Türkei ein Alternativkonzept in der Flüchtlingspolitik veröffentlicht hatte, bezeichnete er als "wenig patriotisch".

Besonders geärgert aber hat Wolf den Ministerpräsidenten offenbar mit seiner Kritik, das Land Baden-Württemberg setzte den Beschluss "Sach- statt Geldleistungen" nicht konsequent um. Eine ganze Passage widmet Kretschmann diesem Thema. Seine Regierung entwickle zu diesem Zweck eine Geldkarte, mit der Flüchtlinge bestimmte Sachleistungen kaufen könnten - aber Wolf beharre auf der alten "Zettelwirtschaft". Dass Wolf in diesem Wahlkampf überhaupt so intensiv auf diesem Thema herumreite, wo es doch um Europas Schicksal gehe, könne niemand verstehen, auch die Wähler nicht. "Das sieht aus, als wolle er Abteilungsleiter im Integrationsministerium werden, und nicht Ministerpräsident", sagt Kretschmann. Stürmischer Beifall im Saal.

So endet dieser letzte Wahlkampfabend in allgemeiner grüner Euphorie. Die Umfragen haben hohe Erwartungen geweckt. Ein Ergebnis unter 30 Prozent wäre eine Enttäuschung, alle hoffen auf eine Neuauflage der Regierungskoalition mit der SPD. Eine ganz besondere Hochstimmung bringt der österreichische Grüne Johannes Rauch in die Oberschwabenhalle.

Er gehört der Landesregierung von Vorarlberg als Juniorpartner der Konservativen an, weshalb er Winfried Kretschmann in seiner Gastrede dringend rät: "Wenn schon mit den Schwarzen regieren, dann unbedingt als Nummer eins!" Von einem grünen Sieg in Baden-Württemberg könne in der Flüchtlingspolitik ein Signal an ganz Europa, ja an die Welt ausgehen, ruft Rauch in den Saal: "Man muss nicht in die Knie gehen vor den Rechten, man kann anständig bleiben und trotzdem gewinnen."

Haigerloch, am 12. März. Es ist kurz nach elf Uhr vormittags und es geht nichts mehr rund um die Wittenau-Sporthalle. Auf Firmenparkplätzen und auf dem Rasen, in den Wohngebieten sowieso: Überall stehen Autos. Kennzeichen aus fast ganz Baden-Württemberg sind zu sehen, sogar vom Bodensee und aus Heidelberg sind Leute in den Zollernalbkreis gefahren. Aber nicht, um Guido Wolf zu sehen, den Spitzenkandidaten der CDU.

Die Menschen sind gekommen wegen Angela Merkel. Neunmal hat sich die Kanzlerin in diesen Wahlkampf eingeschaltet, allen Flüchtlingsgipfeln zum Trotz. Von den politischen Mitbewerbern hat nur noch der grüne Ministerpräsident einen großen Auftritt. Die FDP hat ihre große Abschlussveranstaltung schon am Mittwoch gehabt. Für die Linke traten am Freitag Bundestagsfraktionschefin Sahra Wagenknecht auf und Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Aber sie alle haben nicht die Anziehungskraft von Angela Merkel. Das ist an sich gut für einen Spitzenkandidaten. Nur im Fall von Wolf ist es schiefgelaufen: Er hat im Wahlkampf ein "bissle Opposition" gemacht gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, wie es eine junge Frau in Haigerloch formuliert. Die Umfragen haben gezeigt, dass dieses Schlingern die Hardliner nicht zurückholt und die Merkelianer eher zum grünen Ministerpräsidenten tendieren, der für die Gesundheit der Kanzlerin betet. Wolf hat dann noch für die CDU ausgeschlossen, Juniorpartner in einer grün-schwarzen Koalition zu sein, was er im finalen Fernsehduell dann nicht mehr wiederholen wollte. Außerdem ist noch vor ein paar Tagen Wolfs Vater gestorben.

In seinem Gesicht lassen sich all diese Niederlagen und Wunden nicht ablesen. Er hat sein Lächeln angeknipst. Aber in Haigerloch ist spürbar, dass er diese Kampagne nur noch hinter sich bringen will. Beim Vorgeplänkel fragt ihn eine Moderatorin, wie er den Wahlsonntag verbringen werde. Ausschlafen, sagt er, frühstücken, vielleicht in die Kirche. Und dann gebe er seine Stimme ab, man habe ihm gesagt, dass er sich zeigen solle. Eigentlich habe er ja Briefwahl beantragt.

Und dann hält Wolf eine Rede, in der er von "Begeisterung" der CDU-Anhänger und einer Wechselstimmung spricht. Es sind Text-Bausteine, die er schon bei früheren Auftritten verwendet hat, sie zünden auch in Haigerloch kaum. Nach nicht einmal 15 Minuten ist Wolf fertig mit seiner Ansprache. Es ist die vielleicht kürzeste Rede eines Spitzenkandidaten bei einer Landtagswahl.

Das Thema Flüchtlinge hat Wolf ausspart. Dafür erklärt die Kanzlerin nach ihm ausführlich ihre Politik, unaufgeregt, sachlich, mit ein paar Spitzen gegen SPD und Grüne (hier mehr dazu).

Am Ende der Veranstaltung ergreift CDU-Landeschef Thomas Strobl das Wort. Wolf hatte Strobl die Spitzenkandidatur abgeluchst, jetzt zeigt er, wer in der Südwest-CDU dominiert. Überschwänglich preist er die Kanzlerin, und er sagt, Wolf solle Ministerpräsident werden. Doch dann redet er einfach weiter, lobt die Polizei, die freiwilligen Helfer und so weiter. Mit jedem zusätzlichen Satz macht Strobl sich selbst größer und Wolf kleiner. Der Mann redet, als ob er der Spitzenkandidat wäre und nicht Wolf, der ein paar Meter neben ihm geduldig zuhören muss und einen roten Kopf bekommt.

Zwei Männer über 50 sehen der Kanzlerin nach, wie sie ihm Pulk durch einen Nebeneingang die Halle verlässt. Der eine ist in der CDU-Haigerloch und im Betrieb Chef des anderen, der die Grünen wählt. Die Rede der Kanzlerin habe ihm gut gefallen, sagt der Christdemokrat, abgesehen von manchen Ausführungen zur Flüchtlings- und Integrationspolitik. "Wir sind hier eher so wie die CSU." Kretschmann hält er trotzdem für den besseren Ministerpräsidenten. Die Landtagswahl werde seine Partei nicht gewinnen. Er deutet auf die Stuhlreihen vor ihm, die für CDU-Funktionäre reserviert waren: "Hier haben nur Verlierer gesessen."

Stuttgart, am 13. März. Es geht auf drei Uhr zu, am Rande des Schlossplatzes machen ein paar Jusos noch immer Wahlkampf. Manche sind nach Hause gegangen, der harte Kern bibbert. Heiner hat noch einmal frischen Kaffee geholt, es kann also noch ein bisschen weitergehen.

Keiner von ihnen ist in die SPD eingetreten wegen Willy Brandt oder wegen einer anderen sozialdemokratischen Persönlichkeit. Die Agenda-Jahre, die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder - all das ist für sie keine erlebte Geschichte wie bei älteren Parteifreunden. Die anwesenden fünf Jusos sind alle zwischen 19 und 21 Jahre alt. Sie kennen nur Angela Merkel als Kanzlerin und die SPD als viel kleinere Partei, deshalb fehlt ihnen der Phantomschmerz der verlorenen Größe, den die älteren Genossen verspüren.

Die Südwest-SPD wird bei der Wahl womöglich auf unter 15 Prozent schmelzen, dennoch eine bittere Aussicht für die Jusos. Man werde wohl auch an die AfD verlieren, sagt einer.

Lehramtsstudentin Jasmin hat wie Spitzenkandidat Nils Schmid noch bis zuletzt Hausbesuche gemacht, kleine Abenteuer seien das. Teilweise werde man schroff abgewiesen, manchmal erlebe man auch skurrile Dinge. Einmal habe ihr ein nackter Mann mit Cowboyhut die Tür geöffnet - und sich freundlich für die Broschüre bedankt. In einem anderen Fall habe eine wildfremde Frau sie umarmt und gesagt: "Endlich kommt die SPD."

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