Kurden-Konflikt:"Frieden in der Türkei wird es nur mit Öcalan geben"

Leyla Imret

Leyla Imret im September 2015 in Cizre

(Foto: picture alliance / dpa)

Leyla Imret ist HDP-Politikerin und abgesetzte Bürgermeisterin von Cizre. Ein Gespräch über die Unterdrückung der Kurden, die türkische Militäroffensive in Afrin und welche Rolle der inhaftierte PKK-Mitbegründer noch spielt.

Interview von Lars Langenau

Leyla Imret, 29, wurde 2014 mit mehr als 83 Prozent für die HDP zu einer der jüngsten Bürgermeisterinnen der Türkei gewählt. Allerdings kann sie ihr Amt seit 2015 nicht mehr ausüben, wurde von der Regierung in Ankara abgesetzt, musste untertauchen und floh Ende vergangenen Jahres nach Deutschland. Die "Demokratische Partei der Völker", so die Übersetzung der Halkların Demokratik Partisi ist eine linke Partei, die sich insbesondere für die kurdische Minderheit einsetzt. Bei der Parlamentswahl 2015 erreichte sie 13,1 Prozent der Stimmen. Ihre Wähler sind bei Weitem nicht nur Kurden.

Gleichwohl sieht die Regierung in Ankara die HDP als politischen Arm der als Terrorgruppe eingestuften, verbotenen Arbeiterpartei PKK. HDP-Chef Selahattin Demirtaş sitzt seit Dezember 2016 im Gefängnis. Imrets Mutter schickte sie mit fünf Jahren von zuhause weg und mit neun Jahren nach Deutschland. Imret wuchs in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen auf und arbeitete zuletzt als Friseurin, bevor sie zur Chefin der Kommunalverwaltung in Cizre gewählt wurde, einer 135-000- Einwohner-Stadt nahe der syrisch-irakischen Grenze. Vergangenes Jahr lief ein Dokumentarfilm über Leyla Imret in ausgewählten Kinos.

SZ: Frau Imret, sind Sie eigentlich noch Bürgermeisterin von Cizre?

Leyla Imret: Eine gewählte Person kann nur nach Ablauf der Legislaturperiode oder durch Abwahl gehen, deshalb sehe ich mich bis 2019 als legitime Bürgermeisterin meiner Stadt. Seit meiner Absetzung beziehe ich zwei Drittel meines Gehaltes, obwohl es inzwischen einen von der AKP-Regierung gestellten Zwangsverwalter in Cizre gibt und vor allem der Gouverneur der Region meine Aufgaben übernommen hat.

Wie halten Sie Kontakt nach Cizre?

Ich lasse mich regelmäßig am Telefon über die Situation informieren, obwohl jeder in der Stadt unter Beobachtung steht. Die Situation hat sich insgesamt stark verschlechtert.

Wie sieht es dort aus?

30 Prozent meiner Stadt wurden während der 79-tägigen Ausgangsperre 2015 und 2016 durch die Angriffe der türkischen Armee zerstört, etwa 1200 Häuser waren komplett weg. Die Beschädigungen wurden vom staatlichen Sozialbauamt Toki schnell beseitigt und auf den Trümmern wurden neue Wohnungen gebaut. Allerdings geschah das auch, damit es keine Beweise mehr für die Zerstörung und den Tod von 179 Menschen gibt.

Was halten Sie davon, dass jetzt türkische Soldaten in deutschen Leopard-Panzern in der syrisch-kurdischen Provinz Afrin einmarschieren?

Ich war kürzlich Gast auf einem SPD-Kongress und wir sind als HDP von Martin Schulz und Sigmar Gabriel sehr freundlich begrüßt worden. Jetzt bin ich enttäuscht, klar. Allerdings war ich auch nicht ernsthaft davon überrascht, dass sich Deutschland mit seinen Waffen an der türkischen Kriegspolitik beteiligt. Wir hoffen schon seit Jahren, dass sich was ändert, aber die Aggressionen wiederholen sich immer und immer wieder.

Deutschland hat diese Waffen im Rahmen seiner Nato-Verpflichtungen geliefert. Was sollte Berlin sonst tun?

Natürlich ist die Türkei Nato-Mitglied, genauso wie Deutschland. Aber man muss doch darauf achten, wer die Waffen wo gegen wen einsetzt. Zum Beispiel als die Türkei den russischen Kampfjet abschoss, da hatte sich die Nato sofort versammelt und gesagt, dass sie gegebenenfalls einen Angriff der Türkei nicht unterstützen würde. Die Prinzipien der Nato sind doch an menschlichen Werten ausgerichtet. Die Nato-Mitglieder könnten sich also treffen und sagen, dass sie diesen Krieg nicht unterstützen. Allein schon um ihre eigenen Werte zu schützen.

Der Krieg würde aber auch ohne deutsche Waffen geführt werden.

Höchstwahrscheinlich, aber nicht in dieser Härte.

Hat die verhaltene deutsche Kritik an Erdoğan Ihrer Meinung nach auch etwas mit dem Flüchtlingsdeal zu tun?

Ich denke schon. Das haben wir allerdings auch früher schon wahrgenommen, als Cizre von der türkischen Armee 2016 angegriffen wurde. Auch im Europarat regte sich damals kein Protest. Dabei könnte wirtschaftlicher Druck das Verhalten von Ankara wirklich beeinflussen.

Warum ändert sich nichts an der deutschen Außenpolitik?

Weil Wirtschaftinteressen nach wie vor wichtiger als Menschenrechte sind. Aber das ist ja nichts Neues: Auch als große Teile von Cizre vor zwei Jahren zerstört wurden, geschah das mit dem Einsatz deutscher Waffen. Damals starben in meiner Stadt die Menschen auch durch deutsche Bomben und Granaten - und jetzt sterben mit deutscher Unterstützung wieder unschuldige Menschen in Afrin.

Was erwarten Sie von Berlin und von Europa?

Ich bin hier aufgewachsen und will nicht komplett meinen Glauben an Deutschland verlieren. Und Europa war mal ein Vorbild, ist es von der Idee her immer noch. Aber wir sind enttäuscht, dass wir so wenig Unterstützung erfahren. Statt die Menschenrechte zu verteidigen, schaut Europa zu, wie sie hier mit Füßen getreten werden. Das kurdische Volk wird abermals allein gelassen.

Was könnte das verhindern?

Aufklärung, wirtschaftlicher und politischer Druck der Weltgemeinschaft auf Ankara. Aber wenn es um die Kurden geht, schweigt die Welt zu oft. Dabei sind es unsere Leute gewesen, die den IS auf syrischem Boden bekämpft haben. Jetzt wird der Kampf im kurdischen Korridor von Syrien wieder den IS stärken.

Welches Ziel vermuten Sie hinter der türkischen Invasion in Afrin?

Es gibt dafür drei Gründe. Erstens sollen die demokratischen Strukturen zerschlagen werden, die dort auf den Trümmern des syrischen Staates entstanden sind. Zweitens die Angst, dass dieses gemeinsame demokratische Zusammenleben sich auf den Mittleren Osten ausbreitet und auch zu einem Lösungsmodell für die Türkei werden könnte. Drittens ein innenpolitischer Grund und zwar inmitten dieses Krieges Neuwahlen auszurufen und sich damit die Macht zu sichern. Es würde mich nicht wundern, wenn es im März, April Neuwahlen gibt.

Ist es nicht eher die Angst vor einem kurdischen Nationalstaat?

Nein, die Türkei weiß ganz genau, dass wir keinen eigenen Nationalstaat verlangen. Wir Kurden wollen in den bestehenden Grenzen eine demokratische Autonomie. Dies wurde den Kurden seit 1923 immer wieder versprochen, aber dieses Versprechen wurde nie eingehalten. Nach fast 100 Jahren wird der Nahe Osten nun nochmals neu gestaltet. Die Kurden sind nach wie vor eine starke Kraft und bauen ja bereits seit Jahren im Norden von Syrien, in Rojava, ein neues friedliches und demokratisches System mit vielen anderen Völkern zusammen auf.

Traumgebilde Rojava?

Wie sieht dieses System in Nordsyrien aus?

Die demokratische Konföderation in Rojava bietet allen Ethnien und Sprachen gleiche Rechte und basisdemokratische Partizipationsmöglichkeiten, die auch breit genutzt werden.

Das hört sich fast utopisch an. Aber werden da tatsächlich verschiedene politische Strömungen geachtet oder herrscht doch wieder nur die Mehrheit über die Minderheit?

Demokratische Autonomie mit Selbstbestimmung ist uns auch noch bis vor drei Jahren in den kurdischen Gebieten der Türkei zugesagt worden. Es hat auch einiges funktioniert. Aber die AKP hat alle unsere Bemühungen wieder zerstört und der Bürgerkrieg ist wieder aufgeflammt. Zunächst wurden unsere Rechte immer weiter eingeschränkt, dann wurden HDP-Politiker abgesetzt, verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. Und Tag für Tag wird es schlimmer.

Es gab vor ein paar Jahren eine Zeit des politischen Frühlings: Kurdisch konnte an den Schulen unterrichtet werden und es gab kurdische TV- und Radiosender. Gibt es das wenigstens noch?

Nein, fast alle sind wieder verboten. 2013/14 gab es diese Zeit der Liberalisierung, aber inzwischen sind wir um 20 Jahre zurückgeworfen. Trotzdem wünsche ich mir, dass ich bald wieder zurückkehren kann. Meine Familie lebt dort, ich fühle mich verantwortlich und meine Anwälte verhandeln um meine Rückkehr. Aber ich wurde viermal festgenommen. Zwar wurde ich jedes Mal wieder freigelassen, aber spätestens seit dem Putschversuch vor eineinhalb Jahren habe ich kein Vertrauen mehr in die türkische Justiz.

Was wird Ihnen vorgeworfen?

Ich habe in einem Interview ein Sprichwort zitiert: "Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre. Und wenn es Krieg gibt, beginnt er auch in Cizre." Das wurde böswillig falsch verstanden, und manipuliert.

Im März will die HDP in Berlin eine Vertretung eröffnen. Soll sie auch dazu beitragen, dass es zu einer Verständigung zwischen Kurden und Türken in Deutschland kommt, zwei Volksgruppen die sich auch hier oft feindselig gegenüberstehen?

Wir sind auch eine türkische Partei, die drittgrößte sogar. Wir vertreten also nicht nur die Kurden, sondern auch die Türken sowie alle Demokraten.

Was plant die deutsche HDP-Vertretung in diesem Zusammenhang konkret?

Wie Sie wissen, steht die HDP in den letzten zwei Jahren unter starkem Druck. Unsere gewählten Bürgermeister wurden abgesetzt und durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. An die zehntausend unserer Mitglieder, darunter vor allem Leute aus den Vorständen, Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, wurden inhaftiert. In einer solchen Phase hier eine Vertretung zu öffnen dient dafür, die dortigen politischen Entwicklungen hier einer breiten Öffentlichkeit und den politischen Parteien bekannt zu machen und Solidarität zu organisieren. Zur Zeit haben mehr als hundert deutsche Abgeordnete Patenschaften mit unseren Abgeordneten. Hier liegt der Schwerpunkt unserer diplomatischen Arbeit.

Wer wählt die HDP?

Wir vertreten nicht nur das kurdische Volk und es sind nicht nur Kurden, die uns wählen. Auch viele linke Türken geben uns ihre Stimme und Türken, die Frieden wollen. Andererseits gibt es auch konservative und religiöse Kurden, die die AKP gewählt haben.

Die HDP strebt einen "demokratischen Konföderalismus" an. Gibt es für dieses politische Konzept ein historisches Beispiel?

Unser Vorschlag ist eine direkte Demokratie. Davon gibt es in Europa, in Italien und Spanien einige Beispiele autonomer Gebiete. Es muss in den Stadtteilen und Dörfern eigene Räte geben. Das ist auch die Lösung eines freiheitlichen und gemeinsamen Zusammenlebens im Mittleren Osten. Erst das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hat das nationalstaatliche Denken im Nahen Osten forciert. Dabei hat die Unterscheidung in armenische, assyrische, kurdische, türkische und turkmenische Völker immer wieder zu neuen Konflikten geführt. Damit wollen wir brechen.

Wie könnte eine Konföderation aussehen? Ist das nicht nur ein Traumgebilde?

Tatsächlich ist die kurdische Gesellschaft noch vielfach in Clan-Strukturen organisiert, aber es wird eine Art demokratisches Rätesystem versucht, das am ehesten mit der Pariser Kommune von 1871 vergleichbar ist. Es hat auch auf andere Völker eine große Anziehungskraft, etwa für die Jesiden. Das einfache Grundprinzip ist, dass die Leute, die vor Ort leben, sich um ihre eigenen Belange kümmern.

Die HDP pflegt enge Verbindungen zur PKK. Unterstützt Ihre Partei den bewaffneten Kampf der PKK in der Türkei und der verwandten YPG in Syrien, wie es ihnen Erdoğan vorwirft?

Wir haben keine organische Verbindung, es gibt nur in Teilen eine Nähe der Ideen und zwar des gemeinsamen, freien, demokratischen Lebens, der Frauenbefreiung, des ökologischen Lebens. Krieg bringt niemals eine Lösung. Nur wenn man sich zusammen an einen Tisch setzt und es zu einem Dialog kommt, ist Frieden möglich. Andererseits bin ich auch davon überzeugt, dass es ein Recht auf Selbstverteidigung gibt.

Hatten die Kurden bislang falsche Vertreter? Schließlich wurden nie friedliche Erfolge, wohl aber immer mehr Gewalt geerntet?

Das sollten sich diejenigen fragen, die Kurdistan zertstückelt haben. Wieso haben die hegemonialen Mächte die Kurden seit 100 Jahren einer Politik der Vernichtung und Assimilation ausgesetzt? Die Massaker und Genozide gegen die Kurden werden bis heute fortgesetzt.

Ihr Vater wurde 1991 als PKK-Guerilla erschossen. In den Augen der türkischen Regierung war er ein Terrorist. Wie würden Sie ihn bezeichnen und welche Bedeutung hat er für Sie?

Als nach dem 12. September 1980 eine Diktatur errichtet wurde und weil eine demokratische Politik nicht möglich war, schloss er sich dem Kampf an und wählte diesen Weg. Er hat für die Freiheit seines eigenen Volkes gekämpft - und dafür habe ich großen Respekt. Ich führe ja auch einen Kampf für die gleiche Ziele: die Freiheit der Völker, für ein Leben in Gleichberechtigung und die Emanzipation der Frauen - aber auf legalem und demokratischem Wege.

Welche Rolle spielt der ehemalige PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit 1999 im Gefängnis sitzt?

Nach wie vor spielt er eine wichtige Rolle, aber 2013 wurde er in Isolationshaft genommen und damit die Kommunikation mit der Außenwelt gestoppt. Seine Anwälte haben inzwischen mehr als 620 Mal den Antrag gestellt mit ihm sprechen zu dürfen, alle wurden negativ beantwortet. Ihm wird damit ein Menschenrecht genommen, aber vor allem weiß der türkische Staat, dass er eine Friedensbotschaft lancieren würde. Deshalb will er das unbedingt verhindern.

Wieso das?

Seitdem Herr Öcalan im Gefängnis ist, hat er eine Verteidigungsschrift von 5000 Seiten geschrieben. Seine Gedanken und Strategie werden vom Volk als sehr wertvoll erachtet. Er selbst hat in den 80er und 90er Jahren in Syrien fast 20 Jahre zusammen mit dem Volk gearbeitet. Und heute hängen von ihm in vielen syrischen Häusern Bilder an der Wand. Öcalan und die PKK werden in der Türkei und Europa als Feindbild aufgebaut, weil ihnen seine politischen Lösungsvorschläge nicht ins Konzept passen.

Müsste sich die HDP stärker von Öcalan distanzieren?

Auch manche meiner Wähler sympathisieren mit der PKK. Deren Kinder sind Guerillas in den Bergen oder inhaftiert, gefoltert oder getötet worden. Wir als HDP sind die Brücke zur PKK und können uns nicht von unseren Ursprüngen abspalten.

Aber macht es nicht genau das schwierig: die PKK als bewaffneter Arm der HDP?

Wir haben keine organischen Verbindungen zur PKK. Wir wollen Frieden. Aber einen Frieden in der Türkei wird es nur mit Öcalan geben. Etwa 50 000 Menschen kämpfen in der PKK, obwohl jeder zuhause ein friedliches Leben führen möchte. Dabei hat sich Öcalan gewandelt und setzt auf Dialog und auf Frieden.

Dieser Personenkult um Öcalan erscheint uns in Deutschland fremd. Ist er nicht eher ein Hindernis für den Frieden?

Bis 2008 stand Nelson Mandela noch auf der Terrorliste des FBI. War Mandela für Sie ein Terrorist? Jassir Arafat hat 1994 den Friedensnobelpreis bekommen, inmitten des Krieges. War er für das Komitee auch ein Terrorist?

Ist Öcalan im Gefängnis zum Pazifisten geworden?

"Die Zeit der Waffen ist vorbei" - das hat er schon vor zehn Jahren verkündet. Selbstverteidigung allerdings halten alle PKK-Kader für gerechtfertigt. Aber nochmal: Dialog ist der Weg! Schließlich haben sich doch auch in Südafrika Todfeinde an einen Tisch gesetzt und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Warum soll das dann nicht auch in der Türkei möglich sein? Schließlich sind alle des Leids, des Blutvergießens müde.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: