Kritik nach Griechenland-Abstimmung:"Die Grenze zur Handlungsunfähigkeit ist erreicht"

SPD und Grüne erkennen nach dem Griechenland-Votum einen radikalen Vertrauensverlust in den Reihen der Bundeskanzlerin. Unionschef Kauder sieht keinen Grund zur Sorge, selbst wenn aus der FDP weiter gestichelt wird. Unterdessen mahnt Altkanzler Kohl, die Euro-Rettung nicht aus dem Blick zu verlieren.

Das zweite Griechenland-Rettungspaket hat mit 496 von 591 Stimmen den Bundestag mit breiter Mehrheit passiert. Aber eine Kanzlermehrheit - also eine absolute Mehrheit der Koalition unabhängig von der Zahl der Anwesenden - hat die Koalition um sieben Stimmen verfehlt. Regierung und Opposition machen danach ihre jeweils eigene Rechnung auf - und sehen ganz unterschiedliche Ergebnisse. Während die Union kein großes Problem erkennt, sehen SPD und Grüne Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Ergebnis schwer beschädigt.

Merkel Lawmakers Soften Greek Demands

Kanzlerin Merkel: Ermüdungserscheinungen angesichts des Griechenland-Entscheids.

(Foto: Bloomberg)

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagte dem Tagesspiegel: "Der Zerfall der Koalition ist in vollem Gange. Inzwischen ist die Grenze zur Handlungsunfähigkeit erreicht." Nicht einmal das Kabinett folge der Kanzlerin mehr. "Merkel hat ihre Regierung nicht mehr im Griff", sagte auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles der Nachrichtenagentur dpa. Sie verwies auf Äußerungen von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der vor der Abstimmung einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone ins Spiel gebracht hatte. "Durch Leute wie Friedrich fühlen sich andere ermuntert. Friedrich macht Merkel die Kanzlermehrheit kaputt. Wenn sie Mumm hätte, würde sie ihn rauswerfen", sagte Nahles.

Auch der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Kahrs, forderte die Entlassung Friedrichs. Bundeskanzlerin Merkel könne keinen Minister im Kabinett behalten, der so gegen die Kabinettsdisziplin verstoße, sagte er dem Hamburger Abendblatt. Kahrs machte Friedrich für die verfehlte Kanzlermehrheit bei der Bundestagsabstimmung zum zweiten Griechenland-Hilfspaket mitverantwortlich. "Wenn ein Minister nicht steht, steht auch die Fraktion nicht", sagte Kahrs.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, sagte der dpa, erstmals habe Merkel die Kanzlermehrheit bei einer europapolitischen Entscheidung verfehlt. Dies wäre auch der Fall gewesen, wenn alle abwesenden Koalitionsabgeordneten sie unterstützt hätten. "Nach den Rüpeleien von FDP-Chef Philipp Rösler und dem offenen Widerspruch von Innenminister Hans-Peter Friedrich steht das Abstimmungsdebakel vom Montag in einer Reihe von Verfallserscheinungen der Koalition. Frau Merkel muss die Frage beantworten, in wessen Namen sie in Brüssel verhandelt."

Tatsächlich ist die Kritik an der Griechenland-Rettung in der Union auch nach dem Rückzieher von Minister Friedrich nicht verstummt. Der CSU-Europapolitiker Thomas Silberhorn, der gegen das Hilfspaket gestimmt hatte, riet Griechenland, zur Drachme zurückzukehren. "Den Griechen wäre besser geholfen, wenn sie die Euro-Zone verlassen", sagte er dem Kölner Stadt-Anzeiger. Innenminister Friedrich habe in seinen gleichlautenden Äußerungen vom Wochenende "nur zum Ausdruck gebracht, was vielen auf den Nägeln brennt".

Von Zerfallserscheinungen will der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder, dennoch nichts wissen. Er sagte der Bild-Zeitung: "Auf die Kanzlermehrheit kam es überhaupt nicht an. Wir hatten eine deutliche eigene Mehrheit." Kauder betonte, die Koalition habe Handlungsfähigkeit bewiesen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sprach angesichts der Debatte über die verfehlte Kanzlermehrheit von einer "Phantomdiskussion". Die sogenannte Kanzlermehrheit werde in seltenen Fällen rechtlich benötigt, sagte Lammert im ARD-Morgenmagazin. Für jedes normale Gesetz oder Entschließung etwa gebe es keine solche Anforderung.

Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sieht die verfehlte Kanzlermehrheit gelassen. "Es gab eine Regierungsmehrheit und keine Kanzlermehrheit, und die Regierungsmehrheit ist das, was zählt", sagte Westerwelle im Deutschlandfunk. Wenn 496 von 591 abstimmenden Abgeordneten dem Kurs der Bundesregierung zustimmten, dann sei dies ein Hort der Stabilität. "Alles andere ist oppositionelles Wunschdenken", sagte Westerwelle weiter.

Kohl fordert mehr Europa

In der namentlichen Abstimmung hatte es vier Neinstimmen und eine Enthaltung von FDP-Abgeordneten gegeben. In der wesentlich größeren CDU/CSU-Fraktion wurden 13 Neinstimmen und zwei Enthaltungen gezählt.

Der designierte FDP-Generalsekretär Patrick Döring gab dennoch der Union die Schuld für die fehlende Kanzlermehrheit: "Wir sehen mit Sorge, dass die Zustimmung zum Euro-Kurs der Bundesregierung innerhalb der Unionsfraktion ganz offensichtlich kontinuierlich schwindet", sagte er dem Tagesspiegel.

Mitten in der Diskussion um den Zusammenhalt der Koalition mahnt Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, die Kernfrage der Euro-Rettung nicht aus dem Blick zu verlieren. Das Ziel des geeinten Europas dürfe nicht in Frage gestellt weden. "Wir müssen die Krise als Chance nutzen. Wir brauchen - gerade jetzt - mehr und nicht weniger Europa", schrieb er in einem Beitrag für die Bild-Zeitung. Es sei nach zwei schrecklichen Weltkriegen die Erkenntnis gewesen, nur das geeinte Europa werde die Chance auf dauerhaften Frieden und Freiheit eröffnen. "Die bösen Geister der Vergangenheit sind keineswegs gebannt, sie können immer wieder zurückkommen. Das heißt: Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden und der Friedensgedanke also das Bewegungsgesetz der europäischen Integration." Zugleich warnte der Altkanzler vor Kleinmut: "Wir haben allen Grund zu Optimismus, dass wir, dass unser Europa auch aus der gegenwärtigen Krise gestärkt hervorgeht - wenn wir es nur wollen."

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