Krisenjahr 2015:Flucht und Terror sind Geschwister

Krisenjahr 2015: Stationen der Flucht: die Überwindung des Mittelmeers, die Mühsaal des langen Marsches, banges Hoffen am Ziel

Stationen der Flucht: die Überwindung des Mittelmeers, die Mühsaal des langen Marsches, banges Hoffen am Ziel

(Foto: Reuters/AFP)

Über Deutschland brach in diesem Jahr mit aller Gewalt eine neue Weltkrise herein - Flucht und Terror sind dabei zwei Seiten eines Phänomens.

Von Stefan Kornelius

Wie sich die Worte gleichen. Von Krieg ist wieder die Rede, von einem Krebsgeschwür, das es auszumerzen gelte. Die Durchhaltefähigkeit wird beschworen, der lange Atem, die kulturelle und moralische Überlegenheit. Der Terror ist zurückgekehrt in diesem Jahr, und wie nach dem 11. September 2001 reagiert die Nation mit Schock, Trauer und einer Selbstvergewisserung ihrer Stärke. Nur dass es sich bei dieser Nation diesmal um Frankreich handelt und nicht um die Vereinigten Staaten, die da zum Ziel der Mörder wurden. Und dass die Anschläge ein allemal verwundetes, ausgelaugtes, ängstliches Europa treffen.

Terror und Flucht: Das ist der Stoff für apokalyptische Szenarien, der Nährboden für Extremisten und Radikale, der perfekte Destabilisator für verunsicherte Gesellschaften, die ihre Freiheit ach so lieben, aber möglicherweise vergessen, wie sie einst dafür gekämpft haben.

Wer die Krise ignoriert, der wird umso schneller von ihr verschlungen

Terror und Flucht sind Geschwister, sie sind wortwörtlich auf derselben Scholle geboren. Radikalisierung und Verzweiflung sind zwei Spielarten ein und derselben Gemütsverfassung. Sie entstehen in Hoffnungslosigkeit, im Zorn, in Angst. Der Kreislauf des Niedergangs im muslimischen Krisengürtel der Erde mit Syrien als seinem Epizentrum ist in seine vorläufig schnellste Umdrehung geschaltet. Die Fliehkräfte produzieren Flucht und Gewalt, die Menschen werden hinausgeschleudert aus dieser Zentrifuge der Zerstörung. Sie schlagen auf in Europa, weil Europa nebenan liegt. Möge niemand mehr behaupten, diese Krisen gingen einen nichts an. Das Gegenteil ist wahr: Wer die Krise ignoriert, der wird umso schneller von ihr verschlungen.

Natürlich bleibt die Frage, warum man Gewalt und Exodus nicht früher kommen sah. Aber Europa kämpfte mit sich selbst, war acht Monate lang hypnotisiert von Griechenland und seinen Problemen. Dann kam der Mob von Heidenau, quasi aus heiterem Himmel. Dann kam das Ungarn-Wochenende, dann kam der große Treck. Und plötzlich waren sie zu sehen: Flüchtlinge in Turnhallen und Zeltstädten, Flüchtlinge auf dem Bahnhofsplatz von Budapest und am Kanaltunnel in Calais, unter Lastwagenplanen und im Stacheldraht von Mazedonien, auf der Fähre von Kos und im Nachtzug kurz vor Rosenheim.

Mindestens einer von ihnen wollte aber wohl nicht flüchten, sondern töten, er soll Teil einer Terrorzelle gewesen sein, die aus dem Epizentrum der Todes ins Zentrum der Lebensfreude vordrang: von Syrien nach Paris.

Flucht vor der Flucht und dem Terror ist nicht möglich

Terror und Flucht: Für Deutschland, das die europäischen Krisenjahre in gedämpfter Sicherheit wie hinter einer großen Polstertür erlebt hat, brach das Unheil 2015 mit aller Gewalt herein - eine neue Weltkrise, für die es aber keine Logenplätze zu kaufen gab.

Krisenjahr 2015: Das Leid der Kinder: Krankenhaus in der Rebellenstadt Duma.

Das Leid der Kinder: Krankenhaus in der Rebellenstadt Duma.

(Foto: Abd Doumany/AFP)

In Flucht und Terror spiegelt sich das Desaster der Menschheit in all seinen Facetten. Und in der Reaktion darauf lassen sich Grenzen und Abgründe der Humanität bemessen, die Bruchstellen einer Gesellschaft und der Zusammenhalt von Staaten. Flucht vor der Flucht und dem Terror ist nicht möglich, der Exodus packt sie alle: Präsidenten und Kanzler, Landräte und Gemeindevorsteher, Agenten und Gefreite, Rot-Kreuz-Helfer und die Hausmeister in den Turnhallen.

Millionen Menschen haben sich aufgemacht, Sunniten und Schiiten, Christen und Jesiden. Sie fliehen vor den Fassbomben des Assad-Regimes, den Barbaren des Islamischen Staates (IS) und neuerdings den Raketen der Russen. Die Gruppe aus Syrien führt, in nackten Zahlen und vermutlich im Ausmaß der Verzweiflung, die unzähligen Menschen an, die sich in Richtung Europa aufgemacht haben: aus Pakistan und Afghanistan, aus Iran und dem Irak, aus den Lagern in der Türkei und Jordanien, aus den Krisenregionen Afrikas. Sie entkommen dem Unterdrücker- Regime in Eritrea, den Kriegszonen im Kongo und im Sudan, den Islamisten in Mali und Nigeria, der Anarchie in Libyen und Somalia.

Krisenjahr 2015: Angriff auf Aleppo: Das Assad-Regime bombardiert Zivilisten mit Fassbomben.

Angriff auf Aleppo: Das Assad-Regime bombardiert Zivilisten mit Fassbomben.

(Foto: Karam Al-Masri/AFP)

Die Ursachen für diese Menschheitskrise deuten auf zivilisatorische Umbrüche

Nicht selten fliehen sie aus ökonomischer Not und Perspektivlosigkeit, mit dem Wunsch nach politischer Sicherheit, nach Aufstiegsmöglichkeiten, nach Modernität. Dazu kommen Krieg und Gewalt, religiöse Unterdrückung und Hunger. Aber das sind nur die unmittelbaren Fluchtauslöser. Die tatsächlichen Ursachen für diese Menschheitskrise gehen tiefer und deuten auf gewaltige zivilisatorische Umbrüche, vor allem in islamischen Gesellschaften, aber auch in weiten Teilen Afrikas. Es sind dieselben Umbrüche, denen die Menschheit seit Jahrzehnten bereits den neuen Terrorismus verdankt.

Hass, Gewalt und wirtschaftliche Not sind Ergebnis politischer, religiöser und kultureller Verwerfungen, die seit Jahren die muslimischen Gesellschaften erschüttern. Der sektiererische Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten liefert das bekannteste Beispiel für diesen gewaltgeladenen Wunsch nach Abgrenzung. Oft sind es aber nur lokale Stammeskonflikte oder ethnische Rivalitäten wie in Pakistan oder Afghanistan, die Ausdruck sind dieser Suche nach Stärke, Sicherheit und Zugehörigkeit.

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An der türkisch-syrischen Grenze scheuchen lachende IS-Kämpfer Flüchtlinge weg.

(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Der arabische Nationalismus bietet lange keinen Halt mehr

In diesem Modernisierungskonflikt scheitert die islamische Welt besonders spektakulär. Ihre Stützpfeiler, besonders ihre religiösen Institutionen, versagen kläglich im Angesicht der Umbrüche. Religiöse Regime wie in Iran sorgen nur scheinbar für Ordnung, am Ende können sie sich ihrer Überlebenskraft auch nicht sicher sein. Auch die übrigen Institutionen - Verwaltungen, Parteien, die Eliten aus der Wirtschaft und andere Autoritäten - sind von den Umbrüchen überfordert und überlassen das Feld den Extremisten, die Religion und Gewalt zu einem neuen Fetisch verschmelzen.

Ökonomischer Stillstand, unfähige Institutionen, Feindseligkeit gegenüber der Moderne - der Zivilisationsdruck entlässt seine Opfer in die Flucht. Keine Regierungsform hat es vermocht, Ruhe und Perspektive in diesem Chaos zu vermitteln. Gescheitert sind autoritäre Herrscher wie Saddam Hussein im Irak oder Baschar al-Assad in Syrien, gescheitert sind religiöse Machthaber wie die Muslimbrüder in Ägypten. Der arabische Nationalismus bietet schon lange keinen Halt mehr, er hat die falsche Welt der Kolonialherrschaft nur künstlich verlängert. So beschleunigen sich lediglich Radikalisierung und Anarchie - die Währung der Extremisten. Der Mehrheit aber bleibt nur die Flucht.

Der Westen trägt seinen Anteil am Zerfall der Systeme. Dort, wo sie bereits morsch waren, hat er ihre Zerstörung betrieben wie in Libyen, ohne für Ersatz zu sorgen. Oder er hat sie willkürlich aus dem Sattel gehoben wie im Irak. Oder er hat zugesehen, wie mithilfe von Giftgas die letzten Tabus einer internationalen Ordnung gebrochen wurden.

Krisenjahr 2015: Der große Treck nach Westen auf dem Balkan.

Der große Treck nach Westen auf dem Balkan.

(Foto: Aris Messinis/AFP)

Kommunikation und Mobilität sind die großen Fluchtantreiber und Gewaltanheizer

Der wichtigste Antrieb zur Flucht ist die Perspektivlosigkeit. Leib und Leben müssen nicht unbedingt bedroht sein, um Menschen in den Aufbruch zu treiben. Es reicht die ökonomische Apathie, ein korrupter und unfähiger Staat als Gefängnis. Es sind die Jungen und Lebenshungrigen, die sich dann auf den Weg machen: aus den Armutszonen Afrikas und vom östlichen Balkan etwa. Diese Menschen sind vernetzt und informiert wie noch nie zuvor. Ihre Smartphones liefern den Bauplan für ein besseres Leben, inklusive Google Map und Wegbeschreibung - oder den Bauplan für eine Sprengstoffweste. Flucht ist kein unkalkulierbares Unterfangen mehr. Terrorlogistik auch nicht. Im Gegenteil.

Kommunikation und Mobilität sind die großen Fluchtantreiber und Gewaltanheizer, die Kardanwelle der Krise sozusagen. Nein, als Mutmacher reicht ein Kanzlerinnen-Selfie alleine nicht aus. Es waren die unzähligen Erfahrungsberichte der Fluchtpioniere, die hin und her geschossen wurden im Netz wie Pingpongbälle. Ihre Botschaft: Ihr schafft das auch, traut euch.

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Zeltstadt des UNHCR in der Türkei.

(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Den Rest besorgten die Kriminellen, die Pauschalreise-Veranstalter in ein besseres Leben - und nicht selten in den Tod. Das Schleusertum wurde zur Boombranche des Jahres, weil die Marktverhältnisse es dazu machten. Das Geschäft mit der Hoffnung ist fein zugeschnitten auf die Kundschaft aus der Mitte der Gesellschaft, die mit ihrem Ersparten eine Überfahrt in die Zukunft buchen konnte wie in einem Reisebüro. Oder für den Familienclan, der mit all seinen Dollars den Jüngsten und Kräftigsten auf den Weg schickte in der Hoffnung, dass er die Verwandtschaft eines Tages nachholen würde.

Wie oft diese Reise in der Tragödie endete? Über die Zahl der Toten im Mittelmeer gibt es nur Schätzungen. Näher kam das Flüchtlings- Grauen nicht als nach Parndorf im Burgenland, abgestellt auf der A 4 in einem Transporter für Tiefkühlgeflügel.

Dublin - ein bürokratisches Hirngespinst

Es waren - vor Paris - zunächst diese Schockerlebnisse, die Europa aus seiner Lethargie rissen und klarmachten, dass die Sache nicht in einem Auffanglager auf Lampedusa zu beenden sein würde. Parndorf, der ungarische Zaun, der Bahnhof in Budapest, Menschenkolonnen auf Feldwegen: Die Europäische Union erlebt eine dunkle Stunde ihrer Existenz, weil sie im Angesicht der Krise ihre Einheit aufgab.

Das Flüchtlingsverfahren, gelistet im Städte-Code der EU als Dublin-System, erwies sich als untauglich. In geradezu lächerlicher Naivität hatte dieses Europa verfügt, dass der geografische Kern des Kontinents als Fluchtziel nicht mehr infrage kommen könne, weil dieses Zentrum ja umgeben sei von einem Ring an Staaten, die Obdach in Sicherheit gewähren würden. Ein bürokratisches Hirngespinst.

Deutschland als politisches und ökonomisches Gravitätszentrum

Ihr schafft das? Wir schaffen das? Die bemerkenswerte Karriere des Durchhalte-Appells von Angela Merkel gilt der Empfängerseite dieser Fluchtbewegung: der Europäischen Union, aber vor allem der deutschen Gesellschaft, die zum bevorzugten Ziel der Migranten erklärt wurde. Warum? Weil Deutschland wohlhabend und wohlmeinend ist, weil es schon vor der Flüchtlingskrise zum politischen und ökonomischen Gravitationszentrum in Europa aufgestiegen war.

Deutschland bietet einen einzigartigen Mix: Geld, Sozialstaat, eine liberale Asyl-Gesetzgebung, ein gesellschaftliches Klima, das sich trotz aller Spannungen vom Rest Europas abhebt. Dieses ökonomische und politische Gefälle erzeugte eine eigene innereuropäische Fluchtdynamik. Und weil das Kanzlerinnenwort inzwischen gleichermaßen für alles Gute und Böse in Europa verantwortlich gemacht wird, war es aus Sicht nahezu aller anderen Staats- und Regierungschefs Angela Merkel, die mit ihrer positiven Grundhaltung eine Einladung ausgesprochen und Europa in die Krise gestürzt hatte.

Der IS als gemeinsamer Feind zwingt zu Nähe

Die Gewalt in Paris aber fügte der Gleichung eine neue, unheilvolle Variable hinzu. Würden die Flüchtlinge nicht die Bewohner der Armutsgürtel von morgen sein? Würde sich Europa und speziell Deutschland mit seiner Offenheit die Gefahr nicht ins eigene Haus einladen? Flucht und Terror verschmelzen nun zu einer Bedrohung, in Deutschland weniger schnell als sonst wo in Europa und auch in den USA. Aber gleichzeitig mobilisieren sie auch neue politische Kräfte und möglicherweise neue Entschlossenheit.

Syrien rückt wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, eine Konferenz zur Beendigung des Krieges wird mit Hoffnungen überfrachtet. Russland - eigentlich isoliert wegen des Ukraine-Krieges - greift in Syrien ein und erlebt selbst einen Terroranschlag auf ein Flugzeug. Plötzlich verschieben sich Prioritäten und Allianzen. Die strategischen Ziele sind plötzlich dieselben. Der IS als gemeinsamer Feind zwingt zu Nähe.

Flucht und Terror als Vexierbild

Europa reagiert auf Flucht und Terror. In einem Wettbewerb der Abschreckungspolitik wappnete sich Nation um Nation vor dem Ansturm der Migranten, winkte durch, verweigerte die Versorgung, organisierte den Bustransport von Ost nach West - getreu dem Sankt-Florians-Prinzip, wonach der Patron doch bitte das eigene Haus verschonen und das andere anstecken möge.

So stürzten der Exodus der Hunderttausenden und eine überschaubare Mörderbande Europa und Deutschland ins Chaos - politisch und emotional. Das drückende Leid, besonders der Kinder und Familien, die Verzweiflung und die vom Überlebenswillen getriebene Entschlossenheit konnten niemanden unberührt lassen. Gleichzeitig war da diese kriechende Angst, ob dieses Problem wirklich zu bewältigen sein würde, ob die Gesellschaft diese Last tragen könnte ,ohne sich zu radikalisieren oder Gewalt anzuwenden.

Flucht und Terror als Vexierbild: Mal sind die Fremden zu sehen, die das Gewohnte stürzen und das Unglück der Welt vor die eigene Haustür tragen. Mal ist der dreijährige Aylan Kurdi zu sehen, wie er tot in rotem T-Shirt und mit angelegten Armen am Strand von Bodrum liegt.

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