Krise in Ägypten:Der "Marsch der Million" ins Zentrum der Macht

Ägypten vor dem Showdown: Präsident Mubarak will die Krise mit neuen Platitüden und Ministern der alten Garde aussitzen. Unterdessen bereiten sich Muslimbrüder und Demokraten gemeinsam darauf vor, die Macht zu übernehmen.

Tomas Avenarius, Kairo

Für Islam Taufiq ist die Revolution keine Frage der Zahl mehr. "Am letzten Freitag haben schon zwei Millionen Menschen in Ägypten gegen den Präsidenten protestiert. Wenn Hosni Mubarak bis kommenden Freitag noch immer Ägyptens Präsident ist, dann stehen die Protestierenden nicht mehr auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos. Dann stehen wir am kommenden Freitag vor seinen Präsidentenpalast in Heliopolis."

Anti Government Protesters Take To The Streets In Cairo

Säkulare und islamistische Oppositionelle marschieren in Ägypten mittlerweile gemeinsam. Ein für Dienstag geplanter "Marsch der Million" soll die Entscheidung bringen.

(Foto: Getty Images)

Islam Taufiq ist Muslimbruder, er arbeitet für die Webseite Islam-Online. An den Statistiken des ägyptischen Islamisten über die Zahl der Demonstranten mag man zweifeln. Aber die Muslimbruderschaft ist ein wichtiger Teil der Anti-Mubarak-Opposition. Das politische Programm der wichtigsten Islamisten-Organisation des Nahen Ostens mag vielen demokratisch gesinnten Ägyptern suspekt sein.

Doch die Brüder sind ein tragender Teil der Opposition, ihr informelles Kontaktnetz läuft nicht nur über Twitter, Facebook und das Internet, sondern über Mundpropaganda, Moscheen und islamische Einrichtungen. Und die Fundamentalisten sagen genau das, was alle Regimegegner fordern: Mubarak muss weg. "Und zwar bis Freitag", so der Islamist Taufiq. Der kommende Freitag hat bei den Oppositionellen auch schon einen Namen: "Freitag der Abreise".

Doch der 82-jährige Präsident geht nicht. Die Opposition rüstet daher für den entscheidenden Schlag. Am Montag füllte sich der Tahrir-Platz, Hochburg des Protests, mit Zehntausenden Menschen, Hunderte hatten dort übernachtet. Am Dienstag wollen die Organisatoren der Revolte einen "Marsch der Million" veranlassen; eine Million Demonstranten in ganz Ägypten sind das Ziel.

Warten auf den "Marsch der Million"

Ein unbegrenzter landesweiter Generalstreik wurde bereits ausgerufen. Ein Verhandlungskomitee steht bereit, um mit dem wankenden Autokraten zu reden, ihn zum Rücktritt und zur Bildung einer Übergangsregierung zu bewegen.

Der Sprecher des Komitees ist Mohamed ElBaradei, jedenfalls stellt er sich so dar. "Ich habe den Auftrag von den politischen Kräften erhalten, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden", sagte der Friedensnobelpreisträger und Ex-Chef der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA.

ElBaradei, als Auslandsoppositioneller lange verlacht, hatte sich Sonntagnacht auf dem Tahrir-Platz den Demonstranten gezeigt. "Der Wandel, den wir durchgesetzt haben, kann uns nicht mehr genommen werden", sagte er. Der Ex-Diplomat forderte den Abgang Mubaraks und "ein Ägypten, in dem jeder in Freiheit und Würde leben kann".

Neue Platitüden zu alten Problemen

Auch Essam El Erian und Khairat El Schatar sprachen zur Menge. Die beiden führenden Muslimbrüder, vom Regime inhaftiert, konnten in dem seit Freitag herrschenden Chaos aus dem Gefängnis fliehen. "Sie versuchen alles, die Volksrevolution zu stoppen", sagte Erian auf dem Tahrir, "aber wir bleiben standhaft. Egal, wie viele von uns zu Märtyrern werden." Der junge Islamist Taufiq wischt alle westlichen Ängste gegenüber den Fundamentalisten beiseite: "Wir sind Teil des Volks. Wir fordern wie das Volk: Freiheit, Reformen, freie Wahlen, Würde."

So stehen die demokratische Opposition und die populären Muslimbrüder derzeit Seite an Seite. Der frühere Kampfpilot Mubarak gibt sich dennoch nicht geschlagen. Nachdem die Gewaltorgie seiner Polizei gegen die Protestierenden gescheitert ist, setzt er auf politische Zugeständnisse: "Wir brauchen rasch entschlossene Schritte zu politischen Reformen der Verfassung und der Gesetze. Im Dialog mit allen Parteien."

Ein neues Kabinett mit alten Ministern

Das sind sehr neue Töne von einem Mann, der seit 30 Jahren mit Hilfe des Notstandsgesetzes herrscht, der die Verfassung ändern ließ, um sich die Möglichkeit offenzuhalten, seinen Sohn Gamal als Nachfolger zu installieren. Auch von der Bekämpfung der Korruption und nötigen neuen Jobs redet Mubarak nun - obwohl er seit Jahren weiß, dass die Arbeitslosigkeit um die 20 Prozent beträgt und 90 Prozent der Joblosen unter 30 Jahre alt sind.

In einer in ihrer Erstarrtheit absurd wirkenden Zeremonie stellte der Präsident am Montag das neue Kabinett vor: Nach dem Aufruf lasen die Minister ihren Eid vom Zettel ab und gaben dem ungerührt dastehenden Mubarak die Hand. Es waren viele unbekannte Gesichter dabei; der Verteidigungs-, der Außen- und der Erdölminister sind die alten Leute. Junge Minister fanden sich keine.

Auch wenn der verhasste Innenminister Habib El Adly ausgetauscht wurde: Den Protestierenden wird das nicht reichen. Wie sehr Hosni Mubarak den angekündigten landesweiten "Marsch der Million" am Dienstag fürchtet, zeigte sich in einer anderen Amtshandlung: Der gesamte Zugverkehr Ägyptens wurde am Montag auf Anordnung der Staatsführung lahmgelegt.

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