Krise der Demokratie:Die Entfremdeten

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Einmal alle vier Jahre zur Wahl und Politikern die Lizenz zum Regieren erteilen - dieses Modell gerät immer mehr in die Kritik. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon gibt bedenkenswerte Anregungen.

Von Rudolf Walther

Der hierzulande leider immer noch viel zu wenig bekannte und gelesene Autor Pierre Rosanvallon beschäftigt sich auch in seinem neuesten Buch mit dem brennendsten Thema der Gegenwart - der Krise der Demokratie. Als Historiker und Politikwissenschaftler bringt Rosanvallon die Voraussetzungen dafür mit, weder in eine utopisch-messianische Projektemacherei, noch in politikwissenschaftlich-technokratisches Social Engineering zu verfallen. Entsprechend komplex fällt seine historisch-politische Diagnose aus und entsprechend zurückhaltend sind seine Therapievorschläge, obwohl diese auf nichts Geringeres als eine "zweite staatsbürgerliche Revolution" hinauslaufen.

Nach dem Ersten Weltkrieg rückte immer mehr die Exekutive in den Vordergrund

Die erste staatsbürgerliche oder demokratische Revolution brachte im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts überall, wo sie ernsthaft ins Auge gefasst wurde, die Ausdehnung des zunächst vielfältig beschränkten Wahlrechts zum wirklich gleichen und allgemeinen Wahlrecht und damit die politische Verankerung der Volkssouveränität. In einem brillanten 100 Seiten umfassenden historischen Abriss beleuchtet Rosanvallon die zwiespältige Geschichte der demokratischen Entwicklung seit 1789 beziehungsweise 1776. Er begreift diese Anfänge der modernen Demokratie als "Genehmigungsdemokratie": Im eintägigen Wahlakt bewiesen Staatsbürger ihre Souveränität und erteilten einer Regierung die Lizenz zum Regieren und einem Parlament das Recht, Gesetze zu verabschieden. Die Wähler verabschiedeten sich damit auch gleich selbst aus der Politik bis zum nächsten Wahltag.

Transparente Gesetzesarbeit: Die Reichstagskuppel lässt Einblicke ins Plenum zu. Aber reicht das aus, die Politiker und ihre Arbeit zu verstehen? (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Die Regierung rückte damals gegenüber dem Parlament in den Hintergrund. Formal herrschte damit das zum Fetisch stilisierte "Gesetz" und nicht mehr monarchische Willkür. Jeremy Bentham sprach in Analogie zum "Panopticon" vom "Pannomion" , das Wort wurde gebildet aus den griechischen Wörtern für pan/alles und nomos/Gesetz. Der Vorrang der Legislative prägte die Demokratie im 19. Jahrhundert. In Frankreich etwa gab es zwischen 1876 und 1914 fünfzig schwache Regierungen und eine Vielzahl von völlig bedeutungslosen Regierungschefs, deren Namen heute nur noch Spezialisten kennen. Die Kalküle von Parteichefs und die Ränkespiele der Honoratioren in den Parlamentsfraktionen regierten faktisch im Namen des numinosen "Gesetzes" das Land und nicht die Regierung oder der Ministerrat, von dem Léon Blum sagte, er habe "(kein) wichtiges Gesetz, eine weitreichende Reform oder einen allgemeinen Verwaltungsplan (je) diskutiert".

Nach dem Ersten Weltkrieg wendete sich das Blatt. Es schlug überall die Stunde der Exekutive. Der Prozess der "Präsidialisierung" der Demokratie begann auch dort, wo der Staatspräsident respektive der Monarch fast nur repräsentative Kompetenzen besaß. In dem Maße, in dem sich staatliches Handeln um Wirtschafts- und Sozialpolitik erweiterte, erwuchsen auch Bestrebungen, politisches Handeln nach dem Vorbild von betriebswirtschaftlicher Effizienz und industriellem Management zu organisieren. Solche Bestrebungen stärkten die staatliche Verwaltung und die Exekutive gegenüber dem Parlament. Regieren wurde jetzt als technische Veranstaltung verstanden. Es drohte der Umbau der Demokratie zur Technokratie, ein Begriff der 1919 in den USA geprägt wurde.

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(Foto: Verlag)

Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburger Edition, Hamburg 2016, 376 Seiten, 35 Euro. E-Book: 27,99 Euro.

Eine andere, weit größere Gefahr bildete die Konjunktur der Lehren vom Ausnahmezustand im Gefolge der großen Krise von 1929. Regieren meinte demnach den "souveränen Gebrauch des Willens" (Rosanvallon) jenseits von Gesetz und Verfassung. Gegenüber den Versuchungen durch die Technokratie und den Ausnahmezustand bildete die "Präsidialisierung" der Demokratie einen Mittelweg. General Charles de Gaulles V. Republik machte "die Präsidialisierung der Demokratie" ab 1958 insofern zur Normalität, als sich nach 1945 in allen Demokratien der Vorrang der Exekutive vor dem Parlament durchsetzte. Das tangierte insbesondere das Verhältnis von Regierenden und Regierten. Die auf den Wahlakt beschränkte Erfahrung von Staatsbürgerlichkeit entfremdete die Regierten von den Regierenden immer mehr, ließ die Legitimität von Politikern noch mehr schwinden, ebenso die Wahlbeteiligung und die Zahl der aktiven Parteimitglieder.

Rosanvallon hält eine Umkehrung der Präsidialisierung oder eine Reparlamentarisierung der Politik für unwahrscheinlich oder gar unmöglich und plädiert deshalb für den Umbau respektive die Ergänzung der Demokratie in zwei Schritten - zunächst durch die Aneignungsdemokratie, danach durch die Vertrauensdemokratie. Als Aneignungsdemokratie bezeichnet der Autor einen Prozess, in dem die Kontrolle der Regierung durch Parlament und Staatsbürger verstärkt und die "Lesbarkeit" von Politik erhöht wird. Die wachsende Europaskepsis etwa sieht Rosanvallon als Resultat der "Unlesbarkeit" der Brüsseler Institutionen (Zentralbank, Europäischer Gerichtshof, Kommission).

Die wechselseitige Wahrnehmung von Regierenden und Regierten ist auf der Schwundstufe von trivialen Meinungsumfragen angekommen. Das ist ein Indiz für eine verkümmerte Demokratie, in der Verantwortung, Interaktion und Wissen zerfallen. Rosanvallon zitiert den französischen Soziologen Émile Durkheim: "Ein Volk ist umso demokratischer, je größer die Rolle ist, die Beratung, Reflexion und kritisches Denken bei der Behandlung öffentlicher Angelegenheiten spielen."

Rosanvallon bietet keine Patentrezepte für eine zweite demokratische Revolution, aber bedenkenswerte Hinweise dafür, wie die Politiker ihre Rechenschaftspflicht und Verantwortung anders wahrnehmen und wie Staatsbürger die Sache der Demokratie, also ihre Sache, in die Hand nehmen können und müssen, wenn die Chancen einer "Realisierbarkeit einer Welt der Gleichen" gewahrt werden sollen.

Fazit: Ein außerordentlich anregendes Buch.

Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband erschien unter dem Titel: "Aufgreifen, begreifen, angreifen.", Münster 2014 (Oktober Verlag).

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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