Kriegsverbrecher auf dem Balkan:Missverstandene Helden

Warum nur ist es so schwierig, auf dem Balkan für Gerechtigkeit und Ordnung zu sorgen? Weil die Bevölkerung vollgestopft ist mit dem Mythos vom Verteidigungskrieg, vom Leiden und der Opferrolle des eigenen Volkes. Deshalb laufen Verbrecher wie Karadzic und Mladic noch immer freiherum.

Von Richard Swartz

Vor hundert Jahren hatte in Wien die "Lustige Witwe" Premiere, die Operette von Franz Léhar, in welcher der Gesandte eines sehr kleinen Landes beauftragt wird, in Paris eine vermögende Witwe zu heiraten, um die Staatsfinanzen zu retten.

Alles hängt von Graf Danilo ab; als er die steinreiche Dame in seinen Armen hält, steht das Schicksal seines Vaterlandes buchstäblich auf dem Spiel.

"Pontevedro" klang indes verdächtig nach Montenegro, und der Zorn auf dem Balkan war groß. Man fühlte sich missverstanden, lächerlich gemacht, und so führte Lehárs Operette zu diplomatischen Verwicklungen.

Hundert Jahre später scheint sich nicht viel geändert zu haben: Noch immer lässt sich die Balkanregion als jener Teil Europas definieren, in dem es möglich ist, dass das Schicksal eines ganzen Staates in den Händen einer einzelnen Person liegt.

Aus dem stimmgewaltigen, letztlich harmlosen Verführer ist allerdings ein Verbrecher geworden, der vor das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gestellt werden soll; Graf Danilo heißt inzwischen Ratko Mladic, Radovan Karadzic oder Ante Gotovina.

Und auf dem Balkan fühlt man sich genauso missverstanden und gekränkt wie vor hundert Jahren, weil die Kriegsverbrecher in den Augen der Bevölkerung Helden sind.

Eine ganze Nation als Geisel

Die Regierenden mögen diese Auffassung nicht immer teilen, aber trotzdem protestieren sie dagegen, dass die Aufnahme ihres Landes in die Europäische Union davon abhängig gemacht wird, was mit einer einzelnen Person geschieht oder nicht geschieht.

So hat ein General Mladic oder ein General Gotovina eine ganze Nation als Geisel genommen und, trotz all ihrer patriotischen Schwüre, bislang keine Bereitschaft gezeigt, sich für das Vaterland zu opfern wie einst Graf Danilo.

Dass das Verhältnis zwischen Europa und den betroffenen Balkanstaaten von Einzelpersonen bestimmt wird, kann man auch als Ausdruck westeuropäischer Arroganz interpretieren: Es heißt, jene Länder würden wie primitive, zweitklassige Staaten an der Peripherie des Kontinents behandelt.

Gewiss liegt ein Körnchen Wahrheit in dieser Kritik - auch was die Arroganz betrifft, hat sich seit Lehárs Tagen nicht viel geändert.

Dennoch ist da ein harter Kern unbequemer Tatsachen. Diese Staaten haben durch selbstverschuldete Kriege, durch ihr hartnäckiges Unvermögen, sich der modernen Welt anzupassen, und durch ihre Neigung, das Selbstmitleid der Selbsterforschung vorzuziehen, dramatisch an Bedeutung eingebüßt.

Sie sind von Armut, Kriminalität und Korruption heimgesucht, sie sind keine Rechtsstaaten im strengen Sinn, und sollten sie Anspruch auf intensive Aufmerksamkeit von westlicher Seite erheben, so würden sie in erster Linie als Sicherheitsproblem wahrgenommen.

"Mladic" oder "Gotovina" lassen sich als Etiketten für diesen Zustand betrachten, den man kaum verändern kann, ohne zuerst die Personen zu entfernen. Und doch gehören diese Staaten zu Europa; das gilt für Serbien, Albanien oder Makedonien genauso wie für Kroatien, und zwar viel mehr, als es jemals für die Türkei gegolten hat.

Nur der Lack ist europäisch

Aber Europa lässt sich nicht auf einen geographischen oder historischen Begriff reduzieren, nicht einmal auf kulturelle Gemeinsamkeiten.

Das Europa, um das es hier geht, hat weit mehr mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, mit marktwirtschaftlichen und demokratischen Spielregeln, mit grundlegenden Werten und Institutionen einer Zivilgesellschaft und ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Mit einem Europa, das sich in diesem Bezugsrahmen definiert, haben die balkanischen Staaten denn auch ihre Probleme; zwar sieht so ihr Traum von der Zukunft aus, aber unter der Firnis einer europäischen Fassade ist auf dem Balkan allzu vieles beim alten geblieben.

Titos Jugoslawien war ein kommunistischer Staat, der mit den Mitteln der Diktatur einen Teil der Probleme löste, die in den neuen Nationalstaaten bislang nicht gelöst werden konnten. Doch auf den Traditionen des Titoismus lässt sich kein modernes europäisches Staatswesen errichten, und es gehört zum balkanischen Dilemma, dass man offenbar dennoch weiter auf sie gebaut hat, teils ahnungslos, teils vorsätzlich.

Das betrifft nicht zuletzt das Verständnis von Macht. Vielleicht ließe sich die balkanische Staatsdoktrin als eine Art patriarchalischer Postfeudalismus definieren: als ein Zustand, in dem eine politische Klasse in problematischer Symbiose mit einem Militär- und Polizeiapparat leben muss, oft mit Verbindungen, die sich dem öffentlichen Einblick völlig entziehen.

Die Macht des Militär- und Polizeiapparates

Der Militär- und Polizeiapparat ist das eigentliche Zentrum dieses Machtsystems. Er verfügt über privilegiertes Personal, ein großes Budget und diverse Geheimdienste, die in Kriegszeiten rasch durch paramilitärische Gruppen verstärkt werden können, und alle werden vom Zentrum aus infiltriert und mehr oder weniger direkt kontrolliert.

So war es schon unter Tito, der freilich durch seine einzigartige Autorität und sein Prestige diesen Komplex in Schach hielt. Die politische Führung hatte das letzte Wort. Trotzdem wäre Tito in den sechziger Jahren um ein Haar von seinem Polizeichef Aleksandar Rankovic gestürzt worden, der dann auch die Macht aus den Händen der titoistischen Klasse an sich gerissen hätte.

Letztere wurde schließlich durch die Auflösung Jugoslawiens und die nachfolgenden Kriege entmachtet. Der Militär- und Polizeikomplex im Hintergrund blieb jedoch im wesentlichen intakt. Er besaß in den letzten Tagen des jugoslawischen Staates praktisch ein ganzes Land und verteilte sich später auf mehrere kleinere, während in den Nationalstaaten, die an die Stelle Jugoslawiens traten, eine neue politische Klasse sich zu etablieren versuchte.

Rein äußerlich ist das gelungen; in Europa werden Militärregimes nicht mehr geduldet, das letzte ist mit den Obristen in Griechenland untergegangen. Aber in Staaten wie Serbien, Bosnien oder Kroatien muss die politische Führung auf die Interessen des militärisch-polizeilichen Komplexes sehr viel Rücksicht nehmen, was zu Spannungen und wechselseitigem Misstrauen führt.

Nur sehr langsam hat die übrige Welt begriffen, wie die Ausübung von Macht in derartigen politischen Systemen funktioniert. Eigentlich ist das merkwürdig.

Denn schon seit der "Revolution" in Rumänien vor fünfzehn Jahren haben wir diese politische Choreographie studieren können, die sich dann nach einem verblüffend ähnlichen Muster vollzieht - über Slobodan Milosevics Fall in Serbien bis zum jüngsten Machtwechsel in der Ukraine.

Volksaufstand mit oder ohne Militär

Und so fängt es meistens an: Ein Volksaufstand fordert die politische Macht heraus; ob der Aufstand sich spontan formiert hat oder nicht, ist in diesem Zusammenhang uninteressant. Plötzlich ist das Regime dem Druck der Straße ausgesetzt (wobei Beharrlichkeit oft das wichtigste Druckmittel der Volkserhebung ist), und bald sieht es sich genötigt, an den Militär- und Polizeikomplex zu appellieren.

Ist er bereit, das Regime zu verteidigen? Will er sich heraushalten? Oder die Seite wechseln? In Rumänien, Serbien und in der Ukraine fiel die Entscheidung über den Volksaufstand in dem Augenblick, als sich Militär und Polizei entschlossen, die Seite zu wechseln.

Da in solchen Momenten das Risiko eines Bürgerkriegs besteht, muss man, um die Kontrolle nicht zu verlieren, den Machtwechsel rasch vollziehen, ohne zuviel Einblick zu gewähren und lästige Fragen zuzulassen.

Die Rumänen haben das mit byzantinischem Zynismus geradezu vorbildlich durchexerziert: Alles war von langer Hand vorbereitet, und Nicolae und Elena Ceausescu hatte man sicherheitshalber gleich erschießen lassen, nach der Parodie eines Gerichtsverfahrens, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne lästige Zeugen.

Wir dürfen annehmen, dass einem solcher Seitenwechsel harte Verhandlungen vorausgehen, bei denen Militär und Polizei den Führern des Volksaufstandes verschiedene Belohnungen abzufeilschen versuchen, aber auch Garantien und Amnestien, damit sie später nicht für ihren Einsatz auf der Seite des alten Regimes zur Verantwortung gezogen werden.

So überlebt dieser Komplex, unter Umständen in voller Stärke, zumindest aber intakt. Erst wenn diejenigen, denen er zur Macht verholfen hat, sich öffentlich von dem distanzieren, was im Geheimen ausgehandelt wurde, kommt es zu dramatischen Problemen.

Serbiens Premierminister Zoran Djindjic wurde ermordet, als er seine Möglichkeiten überschätzte und versuchte, dem Militär- und Polizeikomplex wenigstens einen Teil der Macht zu entziehen, indem er einige seiner Handlanger verhaften ließ.

Djindjic hatte der organisierten Kriminalität den Krieg erklärt, aber zugleich sein eigenes Todesurteil unterschrieben, weil er sich nicht an die Vereinbarungen gehalten hatte (oder an das, was seine Verhandlungspartner unter diesen Vereinbarungen verstanden).

Der Militär- und Polizeikomplex auf dem Balkan konnte während der Kriege seine Machtbefugnisse erheblich ausbauen. Aber seit dem Abkommen von Dayton herrscht Frieden, und die Initiative ist wieder an die politische Klasse übergegangen, der viel daran liegt, nach Europa zurückzukehren und durch die Zusammenarbeit mit Den Haag und der internationalen Gemeinschaft das jeweilige Land kredit- und salonfähig zu machen.

Alle Staaten, die an den Balkankriegen beteiligt waren, haben deshalb Kriegsverbrecher ausgeliefert; spät, widerwillig, manchmal steckbrieflich Gesuchte, die behaupten, dass sie "freiwillig" nach Den Haag reisen, eine Formel, die der politischen Klasse auf dem Balkan erlaubt, nicht mehr als Laufburschen für ausländische Auftraggeber dazustehen.

Aber solange Mladic, Karadzic oder Gotovina sich nicht in Den Haag befinden, müssen ihre Staaten im Wartezimmer Europas ausharren.

Auslieferung ist Verrat

Aus Belgrad oder Zagreb heißt es immer wieder, dass man ihrer nicht habhaft werden könne, weil sie in den Untergrund abgetaucht seien und man nicht wisse, wo sie sich aufhielten. Vielleicht befänden sie sich sogar im Ausland.

Aber das sind Lügen und Ausreden (Carla Del Ponte, Hauptanklägerin in Den Haag, drückt es diplomatischer aus, wenn sie sagt, dass Belgrad und Zagreb "nicht genügend" mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten).

Hinter der Verlogenheit verbirgt sich allerdings weniger Trotz und Unvermögen als Angst. Die politische Klasse fürchtet den Konflikt mit Militär und Polizei; die Gesuchten - Karadzic ausgenommen - sind Generäle in Uniform, sie gehören dem militärisch-polizeilichen Apparat an und stehen unter seinem Schutz.

Derjenige, der ihre Verhaftung anordnet, muss deshalb mit Befehlsverweigerung rechnen und damit, dass seine Machtlosigkeit offenbar wird. Wer noch einen Schritt weiter ginge und eine Auslieferung durchsetzte, befände sich in Lebensgefahr. In Zadar, dem Heimatort Ante Gotovinas, hängt sein Porträt im Dienstzimmer des Bürgermeisters. Kein Polizist könnte Gotovina dort verhaften, ohne als Verräter gebrandmarkt zu werden. In Serbien ist die Situation nicht anders.

Angst vor der eigenen Bevölkerung

Noch mehr aber fürchtet die politische Klasse vielleicht die Bevölkerung ihres Landes.

Die ist mit dem Mythos vom Verteidigungskrieg, vom Leiden und der Opferrolle des eigenen Volkes vollgestopft und fest überzeugt, dass alles, was dagegen spricht, nur vom Ausland gesteuerte Propaganda sei.

Diese vaterländischen Mythen halten sich so hartnäckig, dass eine politische Führung, die sie in Frage stellt, damit rechnen muss, dass die Bevölkerung auf die Barrikaden geht, statt zu Hause vor dem Fernseher sitzen zu bleiben.

Das mag übertrieben klingen. Würden die Serben heute wirklich noch auf die Straße gehen, um einen General Mladic zu verteidigen? Oder die Kroaten, um sich für ihren Helden Gotovina einzusetzen? Sicher weiß man es nicht. Aber schon die Unsicherheit sollte genügen, um uns das Dilemma der serbischen und kroatischen Politiker begreiflicher zu machen.

Brüderlichkeit und Einigkeit

Muss Europa also darauf bestehen, dass bestimmte Personen vor Gericht gestellt werden, bevor ihre Staaten der Europäischen Union beitreten dürfen? Wäre es nicht besser, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen?

Das war Titos Methode: Nach dem bewaffneten Kampf gegen ausländische Besatzer, der zum überwiegenden Teil ein Bürgerkrieg war, hat sein Regime dieses Kapitel in der modernen Geschichte des Balkans einfach geschlossen. Niemals kam ans Licht, was sich wirklich ereignet hatte.

Geschichtsschreibung wurde durch Hagiographie oder Mythenbildung ersetzt, Schlagworte wie "bratstvo i jedinstvi" (Brüderlichkeit und Einigkeit) wurden zur einzigen Wahrheit der Kriegsjahre überhöht. Das Resultat war eine Gesellschaft, die unter schwerem Gedächtnisverlust litt, daran gehindert, ihre eigene Vergangenheit zu erforschen. Zu den Kriegen, die in den neunziger Jahren folgten, hat das in nicht geringem Maße beigetragen.

Individuelle politische Verantwortung auf dem Balkan zu fordern ist also nicht nur unter juristischen Gesichtspunkten notwendig, sondern auch, um dort einet neue Auffassung von Geschichte und Gesellschaft zu etablieren.

Ließe man Kriegsverbrecher laufen, würde man damit außerdem der politischen Klasse so etwas wie Absolution erteilen. Denn durch die Jahre der Symbiose mit dem Militär- und Polizeikomplex sind viele Politiker korrumpiert und noch mehr von ihnen kompromittiert worden; Schmiergelder, Verbindungen zu kriminellen Gruppen, als Privatisierung getarnte Schiebereien sind seit langem an der Tagesordnung.

Als wäre nichts geschehen

Die politische Klasse unternimmt jetzt einige Anstrengungen, um sich aus diesen Abhängigkeiten zu befreien. Aber die Politiker können auf die uniformierte Kaste keinen allzu großen Druck ausüben, ohne dass diese aus Gründen der Selbstverteidigung zu enthüllen beginnt, wie tief die politische Führung selbst verstrickt ist.

Hinzu kommt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung jedes "Diktat" von außen ablehnt. Somit ist fast jeder auf dem Balkan daran interessiert, dass alles wieder einmal so weitergehen kann, als wäre nichts geschehen.

Wenn man nun plötzlich darauf verzichtete, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, dann würde man diesem politischen Alltag eine europäisch besiegelte Aura der Anständigkeit verleihen und damit die Glaubwürdigkeit des Projekts Europa aushöhlen, das hier noch auf seine Verwirklichung wartet.

Die übrige Welt tut deshalb gut daran, weiterhin zu fordern, dass Kriegsverbrecher wie Mladic, Karadzic oder Gotovina nach Den Haag ausgeliefert werden. Alles steht und fällt, heute wie damals, mit der einzelnen Person. Das Libretto der Operette ist nach wie vor aktuell. Nur müssen wir diesmal versuchen, ohne Franz Lehárs Musik auszukommen.

Der Autor, geboren 1945 in Stockholm, ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt in Wien und in Istrien. Von ihm erschien auf Deutsch zuletzt "Adressbuch. Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas" (Hanser Verlag, München 2005).

Deutsch von Kristina Maidt-Zinke

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: