Kriegsopfer:Was syrische Flüchtlinge in Jordanien durchmachen

Ins ferne Deutschland schaffen es vor allem gesunde Flüchtlinge. Doch wie ergeht es denen, die beim Krieg in ihrer Heimat verletzt wurden?

Reportage von Christoph Behrens, Zaatari und Caroline von Eichhorn, Amman

Ein weißer Vorhang trennt die Kellerwohnung ab. "Shui, shui", langsam, langsam, mahnt der Therapeut, über den jungen Mann gebeugt. "Dein Bein ist schwach, aber du musst es bewegen." Mohammed liegt im Jogginganzug auf einer Couch und zieht das rechte Bein mit einem Gummiband an. "Kaman, kaman!", mehr, mehr, fordert der Therapeut. Mohammeds Gesicht ist schmerzerfüllt, als er die Übung macht. Auf der Rückseite seines Oberschenkels klafft eine tiefe Kerbe.

Homs vor drei Jahren: Mohammed sitzt mit seiner Familie am Esstisch, als eine Bombe ihr Haus trifft. Sein Bruder ist sofort tot, er überlebt mit Splittern im Bein. "Die Armee hatte die Stadt umstellt, niemand konnte raus", erzählt der Syrer. Ein halbes Jahr leben sie auf der Straße, ernähren sich von kleinen Portionen Reis, trinken abgekochtes Wasser. Seine Wunde kann nicht behandelt werden, entzündet sich. Helfer schmuggeln ihn aus der Stadt, irgendwie schaffen sie es an die jordanische Grenze, wo ihn ein Krankenwagen in die Hauptstadt Amman bringt.

Neun Operationen später liegt der junge Mann auf der Couch im Nachbarland und weiß nicht weiter. Er hat überlebt, er ist hier sicher, aber er hat keine Zukunft. Wie Hunderttausende andere hat Jordanien ihn aufgenommen. Man kennt in Deutschland die Bilder aus den großen Lagern, etwa Zaatari, wo laut UN 80 000 Menschen auf einem Fleck leben, umgeben von Zäunen. Doch 80 Prozent der Flüchtlinge leben in Jordanien außerhalb dieser von den UN finanzierten Notunterkünfte - in einfachsten Wohnungen wie diesen, aus dem Blickfeld der internationalen Gemeinschaft verschwunden. Mohammeds Familie wohnt hier seit Jahren, zu acht teilen sie sich zwei Zimmer ohne Fenster. Draußen brennt die Sonne, es ist unglaublich hell, doch hier unten spürt man davon nichts, es ist stickig und düster.

Kriegsopfer: Physiotherapie für Mohammed: "Jedes Mal, wenn du dein Bein bewegst, fühlst du Schmerz."

Physiotherapie für Mohammed: "Jedes Mal, wenn du dein Bein bewegst, fühlst du Schmerz."

(Foto: C. v. Eichhorn / C. Behrens)

Mohammed humpelt auf seinen Krücken selten raus. Gerne würde er wieder als Layouter in einer Druckerei arbeiten wie zu Hause, in Jordanien darf er jedoch keinen Job annehmen - wer es versucht, riskiert abgeschoben zu werden. Weil Mohammed nichts zu tun hat, verfolgt ihn der Krieg und er verfolgt ihn. Auf seinem Smartphone zeigt er ein Bild seines toten Bruders, blutüberströmt, kurz nach dem Angriff. Bilder seiner Freunde, mit Maschinengewehren posieren sie auf Facebook, sie kämpfen gegen Assad und den IS zugleich, sagt Mohammed. Es ist ein Strom des Grauens, der hier täglich ankommt.

Der Physiotherapeut Yousef Saleh, den die Hilfsorganisation Handicap International geschickt hat, mahnt zum Weitermachen. "Dein Bein ist sehr schwach, jedes Mal wenn du es bewegst, fühlst du Schmerz", sagt der Jordanier. "Aber je öfter du es bewegst, umso weniger Schmerzen hast du." Das scheint auch ein wenig die Aufgabe der Helfer zu sein. Sie können nicht viel tun, aber sie lassen nicht locker. Der jordanische Staat ist von den Neuankömmlingen völlig überfordert, eine Handvoll Hilfsorganisationen sind so ziemlich die Einzigen, die sich um Familien wie die von Mohammed kümmern. Dabei verschärft sich deren Situation immer weiter.

Der Busfahrer droht, die Kinder nicht mehr zur Schule zu bringen

Nächster Besuch der Physiotherapeuten, der Weg führt durch einen Hinterhof voller Wäscheleinen, in der Ferne ruft der Muezzin. Wieder nur ein Vorhang, keine Eingangstür, im Zimmer dahinter sitzt auf einem klapprigen Bett der 56-jährige Ismail*, der im Krieg ein Bein verloren hat.

Kriegsopfer: Ismail ist froh über den Besuch der Helfer - der 56-Jährige möchte unbedingt trainieren.

Ismail ist froh über den Besuch der Helfer - der 56-Jährige möchte unbedingt trainieren.

(Foto: C. v. Eichhorn / C. Behrens)

Während Yousef mit ihm trainiert, beginnt die Ehefrau auf einer Matratze am Boden leise zu schluchzen. Drei Monate sind sie mit der Miete im Rückstand, der Vermieter hat angekündigt, sie in der kommenden Woche vor die Tür zu setzen. Um Medikamente für ihren Mann zu kaufen, musste sie Geld leihen. Vor einigen Monaten konnte sie die Arznei noch kostenlos im Krankenhaus bekommen, mittlerweile nicht mehr. Heute Morgen verkündete dann auch noch der Busfahrer ihrer vier Söhne: Wenn sie morgen nicht das Fahrgeld aufbringe, drohte er, werde er die Kinder nicht mehr mit zur Schule nehmen.

Per SMS kürzten die UN 230 000 Flüchtlingen die finanzielle Hilfe

Wenn man nach den Ursachen sucht, warum gerade Hunderttausende Syrer unterwegs nach Europa sind, findet man sie genau hier. Es sind solche Familien, die Monate oder Jahre in Nachbarländern wie Jordanien durchgehalten haben und darauf hofften, doch irgendwie in ihre Heimat zurückkehren zu können. Jetzt sind ihre letzten Reserven verbraucht, die Bildung der Kinder ist in Gefahr, viele können nicht mehr - und machen sich auf den Weg. Kaum ein Syrer, den man in Jordanien trifft, äußert nicht den Wunsch, nach Deutschland zu gehen.

In dieser Lage könnte man erwarten, dass die Welt sich vor Ort um die Flüchtlinge kümmern würde, damit sie nicht die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer antreten. Doch das Gegenteil ist der Fall, die wenigen Mittel werden noch gekürzt. Am drastischsten waren die Streichungen dieses Jahr beim World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen. Vor rund einem Jahr bekam jeder Flüchtling aus diesem Topf 28 US-Dollar pro Monat ausgezahlt, für Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel. Dann ging dem WFP schleichend das Geld aus, weil viele Staaten, auch europäische, zu wenig oder überhaupt kein Geld überwiesen. Im Januar sank die Summe auf 21 Dollar, im Juli bekamen die Bedürftigsten noch 14 Dollar, alle anderen sieben. Im September informierten die Vereinten Nationen 229 000 Flüchtlinge in Jordanien per SMS, dass sie überhaupt kein Geld mehr bekommen würden.

Auch ECHO, das humanitäre Hilfswerk der EU-Kommission, schränkte im Sommer die Zuwendungen für das WFP drastisch ein - ein Umstand, den ein Funktionär in Amman damit rechtfertigt, das Programm sei "nicht nachhaltig" gewesen. Zeitlich fiel das ungefähr mit dem Beginn des stärksten Flüchtlingsandrangs nach Europa zusammen.

Das Leben wird schwieriger, viele wollen weg

"Die Unterstützung ist gestoppt worden, das macht das Leben sehr schwierig", sagt der Vater von Hadi, einem syrischen Flüchtlingsjungen. Die Familie ist im Norden Jordaniens untergekommen, in der Grenzstadt Irbid, in der mittlerweile jeder vierte bis fünfte Einwohner ein Flüchtling ist. Sein Sohn ist erst fünf, aber er hat jetzt schon genug Schlimmes für ein ganzes Leben hinter sich. Er versteckt sich hinter seinem Vater, mag nicht reden, nicht lachen. In einem Rehabilitationszentrum hat Hadis Papa kleine Bowlingkegel aus Plastik für ihn aufgestellt, doch zum Spielen ist Hadi nur mit viel Zureden zu bewegen.

Kriegsopfer: Der Fünfjährige Hadi hatte in Syrien einen schweren Unfall. Der Vater will ihn nach Europa bringen, damit er behandelt werden kann.

Der Fünfjährige Hadi hatte in Syrien einen schweren Unfall. Der Vater will ihn nach Europa bringen, damit er behandelt werden kann.

(Foto: C. v. Eichhorn / C. Behrens)

In Syrien kippte ihm ein Fass mit heißem Öl über den Körper, als er an einer gefährlichen Stelle spielte. Weil Krieg war, konnten diese Verletzungen nicht behandelt werden. Nach der Flucht nach Jordanien, die drei Monate dauerte, folgten schmerzhafte Eingriffe, um die Haut des Kindes zu retten.

In Irbid hat die Familie eine temporäre Zuflucht gefunden, aber wie lange? Jordanier sind gastfreundliche Menschen. Aber in Städten wie Irbid oder Mafraq ist es bereits zu Demonstrationen gekommen, weil die Lebensmittelpreise stark gestiegen waren. Bislang richtete der Umut sich gegen die Regierung, nicht gegen die Flüchtlinge. Doch die Unzufriedenheit ist in der Bevölkerung zu spüren.

Hadi bräuchte weitere Operationen, für die keine Hilfsorganisation aufkommt. Allein um in Amman einen Arzt zu sehen, müsste Hadis Vater mehr aufbringen, als die Familie im Monat zum Leben hat, eine Gewebetransplantation würde mehrere Tausend Euro kosten.

Wenn er ein Einkommen hätte und wüsste, dass sein Sohn auch in Zukunft medizinisch versorgt werden könnte, sagt der Vater, würde er sehr gerne hierbleiben. Doch so sieht er keinen anderen Ausweg als Europa, und der einzige erschwingliche Weg dorthin führt auf Booten über das Mittelmeer. "Sobald es Hadi besser geht, gehen wir zurück nach Syrien." Das heißt: durch das Kriegsgebiet, weiter zum Meer, und von dort irgendwie Richtung Europa.

*Name geändert.

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