Sexuelle Gewalt bei Kriegsende 1945:"Sie zogen die Frauen in den Wald, wir hörten die Schreie"

Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945

Frau in den Trümmern des bombardierten Dresden. Die undatierte Aufnahme entstand am Ende des Zweiten Weltkrieges.

(Foto: dpa)

Zweiter Weltkrieg: Wie Zeitzeugin Helga Gebhardt als 14-Jährige den Einmarsch der Roten Armee in einem Berliner Vorort erlebte.

Protokoll: Oliver Das Gupta

"Wir hatten schon vor Kriegsende furchtbare Luftangriffe miterlebt, auch bei uns in Falkensee. Zehn Minuten von unserem Haus entfernt wurden in einer Fabrik Tiger-Panzer gefertigt, darum haben sie auch unsere Gegend schlimm bombardiert.

Nachts warfen sie "Weihnachtsbäume" ab (Leuchtbomben), dadurch war es taghell. Wenn heute die Feuerwehrsirene heult, dann schockt mich das nach wie vor, ich bekomme noch immer Gänsehaut. Es war einfach furchtbar.

Meine erste Erfahrung mit toten Menschen machte ich, als ich mit dem Bus zu meiner Tante nach Haselhorst fuhr. In Spandau gab es plötzlich Fliegeralarm, der Bus musste anhalten, wir stiegen aus.

Vis-a-vis vom Rathaus hatten sie vier so genannte Splittergräben ausgehoben. In einen bin ich rein. Es ging etwa zehn Treppenstufen hinunter. Unten waren die Wände abgestützt mit dicken Balken.

Nur noch im Keller

Der Angriff dauerte vielleicht nur fünf Minuten, aber wir durften erst Stunden später wieder hoch. Oben hatten sie die ganzen Leichen schon herausgeholt. Es waren Hunderte.

Überall lagen die toten Menschen, inzwischen von Leinentüchern bedeckt. Manchmal sah man einen Arm herausschauen. Die drei übrigen Splittergräben waren alle hinüber, allein unserer blieb verschont.

Die letzten Wochen, also im März und April 1945, haben meine Familie und ich nur noch in unserem Keller zugebracht, wir haben praktisch dort gewohnt.

Mein Großvater und mein Vater hatten dicke Balken im Keller aufgestellt, um die Decke zu stützen. Nur meine Mutter ging ab und zu nach oben und machte schnell etwas zu essen.

Wir blieben Tag und Nacht dort unten, denn es war ja wirklich gefährlich. Die Amerikaner warfen Bomben, unsere Soldaten schossen mit der Flak.

Wir haben ja in einem Berliner Vorort gelebt, im Grünen. Wir hörten die Kühe auf einer nahen Weide brüllen, ich habe das heute noch im Ohr. Meine Großmutter sagte: "Ich kann das nicht mehr aushalten. Wer kommt mit mir, ich hol` ein bissel Milch".

Dann lief ich mit meiner Oma los, obwohl die Flak geschossen hat. Die haben ja überall hingefeuert, wenn sie irgendjemand gesehen haben. Wir krochen mit der Milchkanne am Boden entlang zu den Kühen. Ich hatte noch nie eine Kuh gemolken - aber plötzlich konnte ich es.

Einfach ganz fürchterlich

Wir haben die Kanne voll gekriegt. Das haben wir insgesamt zwei, dreimal gemacht und kamen immer wohlbehalten nach Hause. Es war schon Wahnsinn.

Und dann, Ende April, war es soweit. Irgendwer rief: Die Russen kommen, die Russen kommen."

Der Stoßtrupp bestand aus lauter Mongolen. Sie hatten Glatzköpfe, waren gelb im Gesicht und wirkten einfach ganz fürchterlich. Als sie kamen, stellten sie ihre Gewehre an den Kellerfenstern ab. Und dann sind sie ums Haus herum in den Keller.

Meinem Großvater und Vater nahmen sie gleich die Uhren ab. Sie haben genommen, was sie nehmen konnten, die Frauen zogen sie in den Wald. Wir hörten ihre Schreie.

Danach kamen andere Soldanten, richtige Russen. Sie suchten sich die schönsten Häuser aus. Wir mussten aus unserem Zweifamilienhaus raus. Meine Großeltern hatten sich Gartenhäuschen im Garten gebaut - dort lebten wir alle zusammen vier Wochen lang.

Bei Siegesfeiern haben die Russen gesoffen. Mit Schubkarren brachten sie die leeren Flaschen weg. Und dann haben sie, betrunken wie sie waren, nicht mehr gewusst, was sie tun und Frauen vergewaltigt.

Mich haben sie nicht angesehen. Aber meine Schwester, die damals 18 war. Meine Familie hatte sie zwar furchtbar angezogen und ihr Zöpfe geflochten. Aber trotzdem versuchten sie es, schlugen die Türen auf und sind hinter ihr her. Meine Schwester war sportlich und rannte weg, in den Hühnerstall durch das kleine Schlupfloch.

Die Schürze vollgestopft mit Süßigkeiten

Am nächsten Tag sind wir dann abgehauen, in das Haus eines befreundeten Arztes. Das war ein Jude, der untergetaucht war. Ich glaube, er hieß Löwenstein. Wo er sich während des Krieges versteckte, weiß ich nicht. Nachdem die Russen gekommen waren, war er jedenfalls wieder da. Immer, wenn Feiern der Russen bevorstanden, flüchteten wir Frauen zu dem Arzt.

Meine Mutter, eine ansehnliche Frau, musste in unserem Haus für die Russen putzen. Einmal schrie sie - jemand wollte sie vergewaltigen. Dann erschien ein Offizier, ein Major, und rettete sie. Die Soldaten wurden mit Arrest bestraft.

Mein Bruder war damals vier Jahre alt, ein ganz goldiger Junge. Die Russen haben ihn über alles geliebt. Sie hoben ihn hoch, schaukelten ihn und spielten mit ihm. Die Tasche seiner Schürze stopften sie voller Süßigkeiten. Davon haben wir natürlich auch profitiert.

Nach etwa einem Monat zogen die Russen ab. Wir brauchten Wochen, bis wir unser Haus einigermaßen wieder hergerichtet hatten.

1950 sind wir nach Süddeutschland, an den Alpenrand, gezogen. Hier habe ich meine Kinder bekommen und groß gezogen, es ist meine zweite Heimat geworden."

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