Kriegsende 1945 (2): Die Baltin:Als das Leid nicht aufhörte

Eha Lorits war elf Jahre alt, als in Estland der Krieg endete. Ihr Vater versteckte sich im Wald vor den Sowjets, deren Agenten Lorits' Familie misshandelten. Sie sagt: "Für mich endete der Krieg erst 1991."

Matthias Kolb

Zum 65. Jahrestag des Kriegsendes in Europa lässt sueddeutsche.de vier Zeitzeugen zu Wort kommen.

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Brennpunkt Baltikum: Nach Kriegsausbruch wurden die unabhängigen Staaten Estland, Lettland und Litauen 1940 von der Sowjetunion einverleibt, 1941 kamen die Deutschen, 1944 eroberte die Rote Armee erneut die Region. Die Aufnahme zeigt einen zerstörten Straßenzug in einer estnischen Stadt 1941.

(Foto: Foto: SZ Photo)

Eha Lorits, Jahrgang 1933, wohnt in einem Dorf in Südestland. Ihr Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbrachte, steht am Rande eines Waldes, für den ihr Vater einst als Förster zuständig war. Im Baltikum war der Krieg im Herbst 1944 beendet: Die Deutschen zogen ab und die Sowjetunion besetzte Estland, Lettland und Litauen ein zweites Mal. Bis 1940 waren die drei Staaten unabhängig gewesen, dann wurden sie wie im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart von der Roten Armee okkupiert.

Als die Wehrmacht 1941 eingerückt war, hatten zahlreiche Balten die deutschen Soldaten noch als Befreier gesehen. Viele, die mit den Deutschen kooperiert hatten, flüchteten nach dem Vormarsch der Sowjets in die Wälder, weil sie eine Verhaftung fürchteten. Andere versteckten sich, um als Partisanen zu kämpfen. Historiker schätzen die Zahl der baltischen Waldbrüder auf mehr als 100.000 - auch einige tausend Frauen waren darunter. Eha Lorits' Vater versteckte sich von 1944 an - sie schildert eine schreckliche Zeit.

"Die ersten Jahre, also die Zeit bis 1947, waren am schlimmsten. Die Agenten vom Sowjetgeheimdienst NKWD kamen fast täglich in unser kleines Haus, um meine Mutter zu bedrohen und zu verhören. Sie wollten wissen, wo sich mein Vater versteckt: Er hatte von 1941 an mit der Omakaitse ("Selbstschutz", ein Freiwilligenverband, Anm. d. Red.) an der Seite der Deutschen gekämpft. Oft wurden wir ins Gemeindehaus gebracht und auch getrennt befragt - sie hofften wohl, dass ich mich verplappere. Einige Male musste ich zuschauen, wie meine Mutter verprügelt und mit Füßen getreten wurde - manchmal hörte ich auch nur ihre Schreie. Ich schwieg und habe aber nichts verraten.

An schlimme körperliche Schmerzen kann ich mich nicht erinnern, ich wurde nicht so brutal verprügelt. Aber psychisch war es die Hölle und ich musste auch einige Zeit ins Krankenhaus. Eine Situation war besonders schlimm: Nachdem die Agenten wieder einmal alles durchsucht hatten, blieb nur der Offizier zurück. Er stieß meine Mutter gegen den Ofen und bedrohte sie mit der Pistole.

Ich umklammerte die Beine des Offiziers und rief: Töte meine Mutter nicht, töte meine Mutter nicht! Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Der Offizier schob mich mit dem Fuß weg, aber er tat meiner Mutter nichts. Er führte sie aber an den Waldrand und sagte: "Los, wo ist der Bunker? Führ uns zum Bunker." Vergeblich.

Mein Vater hielt sich nicht in einem Bunker verborgen, sondern in mehreren Verstecken. In der Scheune gab es auf dem Heuboden einen Hohlraum hinter der Rückwand, in der eine Person Platz hatte. Die Landschaft hier in Südestland ist hügelig und weitläufig, man erkennt von weitem, wenn sich jemand nähert und kann sich verstecken. Wie die meisten metsavennad, wie wir Esten die Waldbrüder nennen, wurde mein Vater von Verwandten und Nachbarn unterstützt - mit Essen, Kleidung und wenn etwas kaputt ging, wurde es repariert.

Wie viele Esten glaubte Vater daran, dass die USA und Großbritannien es nicht zulassen würden, dass sich Stalin das Baltikum einverleibt. Wir hofften auf das "weiße Schiff", valge laev, am Horizont, das uns retten würde. Aber mit jedem Tag schwand die Hoffnung.

Mein Vater kehrte 1948 aus dem Wald zurück, als die Sowjets eine Amnestie zusicherten. Man konnte ihm kein Verbrechen nachweisen. Er hatte sich nur versteckt und keine Warenlieferungen überfallen oder Soldaten attackiert. Ein Jahr später, 1949, kam dann der Schock: Zehntausende Esten, vor allem Frauen und Kinder, wurden nach Sibirien deportiert - entweder weil ihre Männer als Verbrecher galten oder weil sie ihre Bauernhöfe nicht aufgeben wollten und gegen die Kollektivierung protestierten.

Meine Mutter musste mit unserem Pferd die zur Deportation Vorgesehenen zum Zug bringen, das war eine schlimme Schikane, denn Mutter durfte ja keine Solidarität zeigen. Auch Vater wurde nach Sibirien geschickt - und erst nach Stalins Tod 1953 und einer weiteren Amnestie konnte er endgültig zurückkehren. 1956 war er wieder in Vastse-Roosa."

Kämpfe bis in die fünfziger Jahre

Die Kollektivierung der Landwirtschaft sorgte dafür, dass die Waldbrüder kaum überleben konnten - ihnen wurde die materielle Grundlage entzogen. Immer häufiger wurden sie geschnappt oder es gelang dem Geheimdienst, falsche Agenten in die Gruppen einzuschleusen. Am Ende lebte fast jeder allein, um das Risiko einer Verhaftung zu minimieren.

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Esten demonstrieren im Sommer 1989 für die Unabhängigkeit ihres Landes von der Sowjetunion. Zwei Jahre später war es soweit: Moskau entließ die Balten in die Selbständigkeit.

(Foto: Foto: AP)

Der Alltag der Waldbrüder war sehr hart: Man konnte nur nachts heizen, denn der Rauch hätte am Tage das Versteck verraten und im Winter mussten alle Spuren im Schnee beseitigt werden.

Über diese baltischen Partisanen wurde während der Sowjetzeit kaum in der Öffentlichkeit geredet, doch seit der Unabhängigkeit forschen Historiker über dieses Thema. Die letzten Kämpfe zwischen Waldbrüdern und Armee- und Geheimpolizei-Einheiten gab es wohl 1956/57 - in Litauen hielt der Widerstand bis in die sechziger Jahre an.

Der Este August Sabbe hielt sich bis 1978 versteckt - er ertrank bei einem Fluchtversuch. Eha Lorits arbeitet momentan an ihren Memoiren, fotografieren lassen möchte sie sich nicht. Sie findet es wichtig, dass man sich an die Waldbrüder erinnert.

"Mein Vater war ein Waldbruder, weil er an die Freiheit Estlands glaubte. Ich bin fest überzeugt, dass die Überzeugung dieser Männer und Frauen und ihr Kampf halfen, dass die estnische Nation überlebt hat.

Als wir in den achtziger Jahren, nachdem Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht kam, anfingen, für unsere Unabhängigkeit zu kämpfen, habe ich mich oft an meinen Vater erinnert. Als wir von 1988 an singend für unsere Freiheit demonstrierten, hatte ich immer stolz meine estnische Fahne geschwenkt.

Mein Vater hatte sie einst in Streifen zerschnitten und versteckt: ein blaues Stück Stoff, ein weißes und einen schwarzes.

Für mich war der Krieg erst zu Ende, als Estland wieder unabhängig wurde - also im August 1991."

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